Aktuelle Stellungnahme zeigt Wissens- und Handlungslücken aus Coronavirus-Pandemie auf / 17 „Lessons Learnt“ mit Resilienz-Strategien zur besseren Vorbereitung auf künftige Pandemien
Die Interdisziplinäre Kommission für Pandemieforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hat ihre Erkenntnisse und Erfahrungen im bisherigen Verlauf der Coronavirus-Pandemie ausgewertet. In einer jetzt veröffentlichten Stellungnahme formuliert das mit 21 Mitgliedern aus allen wissenschaftlichen Fachgebieten besetzte Gremium, welche Schlussfolgerungen für die Vorbereitung auf künftige Pandemien („Pandemic Preparedness“) sich daraus ableiten lassen. In insgesamt 17 „Lessons Learnt“ werden Wissens- und Handlungslücken aufgezeigt und Handlungsbedarf aus der Perspektive der Wissenschaften benannt. Die „Lessons Learnt“ richten sich an Politik und Verwaltung ebenso wie an Wissenschaftsorganisationen und Forschungsförderer, an Medienvertreterinnen und -vertreter sowie an Forscherinnen und Forscher.
„Die Coronavirus-Pandemie ist Teil einer Ära multipler komplexer globaler Krisen wie dem Klimawandel, dem Verlust der biologischen Vielfalt, kriegerischer Auseinandersetzungen und weiteren Krisen, die wir momentan vielleicht noch gar nicht voraussehen können“, so DFG-Präsidentin Professorin Dr. Katja Becker, die auch Vorsitzende der Kommission für Pandemieforschung ist. „In einer solchen Ära sind wissenschaftlich gesichertes Wissen, wissenschaftliche Strukturen und Ressourcen von besonderem Wert. Mit der nun vorgelegten Stellungnahme wollen wir die künftige ‚Pandemic Preparedness‘ stärken und dabei Perspektiven aus allen Wissenschaftsgebieten einbeziehen. Gerade diesen interdisziplinären Austausch zu den pandemiebezogenen Forschungsbedarfen und Bedarfen der Wissenschaften haben wir innerhalb der Kommission als sehr gewinnbringend wahrgenommen.“
Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie erzeugte weltweit großen Wissensbedarf und hohe Forschungsaktivitäten. Die Wissenschaften selbst waren insbesondere zu Beginn der Pandemie gut vorbereitet, da eine breite Basis erkenntnisorientierter Forschung und entsprechende Forschungsstrukturen vorhanden waren, so die Kommission. Daher dürfe auch die freie, von Neugier getriebene Grundlagenforschung gegenüber einer programmorientierten Förderung nicht geschwächt werden. Nur so könnten die Wissensspeicher für zukünftige und unvorhergesehene Krisen kontinuierlich gefüllt werden. Ungeachtet dessen dürfe die Forschung zu den Ursachen und Nachwirkungen der COVID-19-Pandemie nicht mit dem „Auslaufen“ der Pandemie beendet werden, da die kaskadierenden Folgen erfasst und in Strategien zur Vorbereitung auf künftige Pandemien integriert werden müssten. Die zeitweilige Konzentration von Fördermitteln auf eine aktuelle Krise sei erforderlich, doch die Kommission mahnt vor einer „Covidisierung“ der akademischen Forschung, das heißt, eine längerfristige Konzentration von Fördermitteln sollte vermieden werden.
Die Forschung selbst war durch die politischen Maßnahmen des Pandemiemanagements, insbesondere die Einschränkungen der Mobilität und die Maßnahmen zur Kontaktreduktion, in ihrer Zusammenarbeit stark eingeschränkt. Angesichts des globalen Charakters einer Pandemie sollte die nationale und internationale Vernetzung der Wissenschaften und institutionelle sowie persönliche Netzwerke von Forschenden als Baustein der Krisenbewältigung dringend weiter unterstützt werden, führt die Kommission weiter aus.
Die Pandemie hat aber auch grundlegende Veränderungsprozesse in der Forschung hervorgerufen und beschleunigt. Für die Pandemie war und ist eine hohe Dynamik des Erkenntnisgewinns charakteristisch. Die Kommission empfiehlt, neue Formen der Qualitätssicherung im wissenschaftlichen Publikationsprozess zu etablieren, denn um zu zeitkritischen Themen schnell zu publizieren und gleichzeitig die Qualität zu sichern, brauche es in möglichst allen Wissenschaftsbereichen eine auch durch die wissenschaftliche Ausbildung etablierte Kultur von Vorab-Publikationen. Gleichzeitig müssten die Grenzen wissenschaftlicher Evidenz in der Kommunikation deutlich gemacht werden. Die Grundlagen von Entscheidungen über Maßnahmen des Pandemiemanagements sollten dabei durch die politisch Verantwortlichen sowie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klar kommuniziert werden.
Bei gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themenfeldern besteht das Risiko, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaften für ihre Äußerungen öffentlich kritisiert oder sogar angegriffen werden. Es fehlt Forschenden häufig die Erfahrung im Umgang mit Medienvertreterinnen und -vertretern. Aktiv in der Kommunikation engagierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler benötigten Ressourcen, Qualifizierungsangebote zur Verbesserung der Medienkompetenz und des Wissens über das Mediensystem sowie Beratung und Unterstützung durch ihre Einrichtungen. Gleichzeitig sollte aber auch das Wissenschaftsverständnis bei Journalistinnen und Journalisten ausgebaut und gestärkt werden.
Die Coronavirus-Pandemie hat insofern Ansatzpunkte für eine Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Wissenschaften offengelegt. Dabei sind Politik, Wissenschaftsorganisationen und Forschungsförderer gleichermaßen aufgefordert, durch geeignete Strukturen und förderpolitische Maßnahmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu unterstützen.
Die Kommission empfiehlt daher, adäquate Formate für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu stärken; insbesondere die Förderer von Forschung sollten die Potenziale auch fachlich weit ausgreifender interdisziplinärer Forschung durch dafür vorgesehene Förderformate und -prozesse ausschöpfen. Um das Wissenschaftssystem in Krisensituationen stabiler und zugleich reaktionsfähiger zu machen, wird in der Stellungnahme der Aufbau zusätzlicher, nicht aus Drittmitteln finanzierter Personalkapazitäten vorgeschlagen. Dies schaffe in Krisensituationen größere Stabilität und erlaube zugleich eine höhere Reaktionsfähigkeit im Wissenschaftssystem selbst.
Des Weiteren sollte die digitale Infrastruktur des Wissenschaftssystems dringend gestärkt, aber auch die Fördermaßnahmen für Chancengleichheit im Wissenschaftssystem nachjustiert werden. Zudem unterstreicht die Kommission erneut die Notwendigkeit, die Digitalisierung von Wissenschaftsverwaltung und Daten zu stärken und den Zugang zu sowie die Verfügbarkeit und Verknüpfung von Datensätzen der öffentlichen Verwaltung über Institutionen, Bundesländer und Ländergrenzen hinweg zu verbessern. Daneben braucht es nach Ansicht der Kommission eine zentrale Kommunikationsstruktur für wirksame Gesundheits- und Krisenkommunikation und supranationale Gremien, die in Krisensituationen Handlungsempfehlungen auf der Basis von interdisziplinären Kriterien und synthetisierter Evidenz formulieren.
„Die Stellungnahme der DFG-Kommission für Pandemieforschung ist eine Zusammenschau von Beobachtungen und Erkenntnissen in den verschiedenen Phasen einer weiterhin andauernden Pandemie aus Sicht der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie erhebt keinen Anspruch, die vielfältigen Forschungs- und Förderaktivitäten im deutschen Wissenschaftssystem und darüber hinaus vollständig abzubilden“, fasst DFG-Vizepräsidentin Professorin Dr. Britta Siegmund zusammen, die ebenfalls Mitglied der Kommission ist. „Vielmehr werden die einzelnen ‚Lessons Learnt‘ beispielhaft belegt und konkretisiert. Zudem werden weitere Forschungsbedarfe festgestellt und die notwendige Entwicklung von Rahmenbedingungen beschrieben, um die Stellungnahme in wirksames Handeln münden zu lassen.“
Zur Stellungnahme:
Zur DFG-Kommission für Pandemieforschung:
Fachliche Ansprechpartnerin in der DFG-Geschäftsstelle: