Bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie in Deutschland haben Wissenschaft, Politik und Gesellschaft in erheblicher Weise von fachübergreifenden Forschungsansätzen und -arbeiten profitiert. Zugleich besteht auch nach dem Ende der akuten Pandemie-Phase hoher Forschungsbedarf zu zahlreichen Fragen. Und: Um noch besser auf künftige Krisen vorbereitet zu sein, sind eine systematische und wissenschaftsgeleitete Aufarbeitung der Pandemie und Pandemiemaßnahmen sowie der Rolle der Wissenschaft dringend notwendig.
Dies sind drei der zentralen Schlussfolgerungen, die die Interdisziplinäre Kommission für Pandemieforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) nach ihrer dreieinhalbjährigen Tätigkeit von Mitte 2020 bis Ende 2023 zieht. Der Abschlussbericht der Kommission wurde jetzt von der DFG veröffentlicht, nachdem er zuvor im Präsidium sowie im Senat und Hauptausschuss der größten Forschungsförderorganisation und zentralen Einrichtung für die Selbstverwaltung der Wissenschaft in Deutschland vorgestellt und diskutiert worden war.
„Der Bericht unterstreicht den maßgeblichen Beitrag der freien und erkenntnisgeleiteten Forschung zur Einhegung der Pandemie“, hebt im Vorwort DFG-Präsidentin Professorin Dr. Katja Becker hervor, die zugleich den Vorsitz der Kommission innehatte. Die positive Resonanz auf die Arbeit der Kommission, so Becker weiter, „bietet Anlass, über mögliche Formen nachzudenken, wie Gesellschaft und Politik auch in Zukunft von der weitgefächerten Expertise der deutschen Forschungslandschaft und ihrer Wissenschaftsorganisationen profitieren können. In diese Überlegungen könnte die Erfahrung der DFG mit dieser besonderen Kommission einfließen.“
Bei der Vorstellung des Berichts in den DFG-Gremien zeigte sich Becker davon überzeugt, „dass wir in Deutschland dauerhaft und unabhängig von Krisen transparent und interdisziplinär zusammengesetzte wissenschaftliche Beratungsstrukturen benötigen, um das Vertrauen zwischen Gesellschaft, Politik und Wissenschaft weiter zu stärken“. Solche Netzwerke müssten jedoch vor einer kommenden Krise aufgebaut und dauerhaft gepflegt werden, damit die Potenziale der Wissenschaft im Krisenfall die vorhandenen Strukturen stärken und die Kapazitäten der gesetzlich verantwortlichen Institutionen flankieren können, so die DFG-Präsidentin.
Im Mai 2020 von der DFG als bewusste Ergänzung zu den zahlreichen, auch in Deutschland nach dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie rasch entstandenen Forschungs- und Vernetzungsaktivitäten eingesetzt, wies die Pandemiekommission zwei Besonderheiten auf: Zum einen und anders als die meisten Expertengremien arbeitete sie unabhängig von direkten politischen Beratungskontexten. Zum anderen und vor allem führte sie die für die Bearbeitung drängender wissenschaftlicher Fragen notwendige Expertise aus allen Disziplinen zusammen und bezog dabei neben der medizinischen und epidemiologischen Perspektive auch mathematisch-naturwissenschaftliche, technische, rechtliche, soziale, psychologische und historische Aspekte mit ein. Diese große interdisziplinäre Breite wird von der Kommission selbst rückblickend als besondere Stärke und überaus gewinnbringend angesehen, wie es nun in ihrem Bericht heißt.
Im Mittelpunkt des mehr als 60 Seiten umfassenden und mit zahlreichen Hinweisen auf weiterführende Informationen und Materialien angereicherten Berichts stehen zunächst die großen Themen- und Arbeitsfelder, mit denen sich die anfangs 18 und später 21 Kommissionsmitglieder unter dem Vorsitz der DFG-Präsidentin in insgesamt 26 Sitzungen befassten. Mit Ausnahme der Abschlusssitzung fanden dabei alle Sitzungen im digitalen Format statt.
Ein Schwerpunkt der Kommissionsarbeit bestand in der Begleitung, Koordination und Unterstützung von Corona-Forschungsprojekten, sei es bei laufenden DFG-Projekten, in der bereits im März 2020 von der DFG gestarteten und bis dato größten deutschlandweiten fachübergreifenden Ausschreibung zur Erforschung von Epidemien und Pandemien oder im Rahmen der neuartigen „Fokus-Förderung COVID-19“ der DFG zur kurzfristigen Bearbeitung akuter Forschungslücken. Insgesamt war die Kommission so an der Förderung von mehr als 150 Forschungsprojekten beteiligt, für die mehr als 45 Millionen Euro an Fördermitteln bewilligt wurden.
Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt sah die Kommission in der Vernetzung von Forschungs- und weiteren Aktivitäten, etwa mit der von ihr maßgeblich getragenen internationalen digitalen Forschungskonferenz „Preparedness for Future Pandemics from a Global Perspective“, die Ende 2021 Wissenschaftler*innen aus über 100 DFG-geförderten Projekten zusammenführte und den Dialog mit internationalen Partnern intensivierte. Weitere Formate waren hier wissenschaftliche Rundgespräche und der Austausch mit anderen Organisationen des Wissenschaftssystems, Verbänden und Stiftungen sowie Vertreter*innen der Politik.
Mit einer Reihe öffentlicher und wissenschaftlicher Stellungnahmen trug die Kommission ebenso ihrem satzungsgemäßen Auftrag und zudem der besonderen Bedeutung von Kommunikation in der Coronavirus-Pandemie Rechnung. Hier fand vor allem ein Anfang 2021 vorgelegtes Dossier über die Impfung gegen COVID-19 breite Rezeption. Andere Themen waren etwa die Ausbreitung von SARS-CoV-2-Viren durch Aerosole, das Long-COVID-Syndrom, der Einsatz von Gesundheitsdaten und das WHO-Pandemieabkommen.
In einem weiteren Teil ihres Berichts reflektiert die Kommission wiederkehrende Querschnittsthemen, die für ihre eigene Arbeit charakteristisch waren und zugleich wesentliche Herausforderungen der Coronavirus-Pandemie für die Wissenschaft darstellten. Der hohe Bedarf an interdisziplinären Ansätzen und Arbeiten gehörte hierzu ebenso wie die in Deutschland auch im internationalen Vergleich ausgeprägten Problematiken bei Forschungsdaten und Datenverknüpfungen. Wichtige Querschnittsthemen im Hinblick auf das Wissenschaftssystem und den wissenschaftlichen Arbeitsprozess waren etwa die Publikationskultur und wissenschaftliche Produktivität sowie Fragen von Translation, Implementation und Wissenstransfer. Mit der Wissenschafts- und Gesundheitskommunikation sowie der Politikberatung standen aber auch über die im engeren Sinne wissenschaftlichen Kontexte hinausgehende Themen regelmäßig im Fokus.
Im abschließenden Teil ihres Berichts wendet sich die Kommission einer Reihe von Themen zu, die aus ihrer Sicht auch nach dem Ende der akuten Phase der Coronavirus-Pandemie und nach dem Ende der eigenen Arbeit drängend sind. Auch dabei geht es um die Frage, wie die Gesellschaft noch besser auf künftige Pandemien und vergleichbare Krisen vorbereitet sein kann.
Hierbei konstatieren die 21 Expert*innen des Gremiums zunächst einen weiterhin hohen Forschungsbedarf auf zahlreichen Feldern. Als besonders wichtig sehen sie eine stärkere Verbindung zwischen der Grundlagenforschung und der Public-Health-Forschung an. Erhebliche Forschungsdefizite gebe es zu den Langzeitfolgen von COVID-Infektionen, hier seien sowohl mehr längerfristig angelegte, integrierende Kohortenstudien als auch multidisziplinäre Forschungsansätze notwendig, um die über die biomedizinischen Langzeitfolgen hinausgehenden breiten gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen erfassen zu können. Auch hinsichtlich der ökologischen Langzeitfolgen und der Schäden durch die Pandemie auch an Umwelt und Tieren sowie allgemein zum Zusammenhang von Biodiversität und menschlicher Gesundheit im Lichte der Pandemie besteht für die Kommission weiterer Forschungsbedarf. Großer Handlungsbedarf wird schließlich auch bei der Implementationsforschung und hier vor allem zur Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in konkrete gesundheitsbezogene Maßnahmen ausgemacht.
Die Kommission schließt ihren Bericht mit einem ausdrücklichen Plädoyer für eine systematische und wissenschaftsgeleitete Aufarbeitung der Pandemie und der Pandemiemaßnahmen sowie der Rolle der Wissenschaft im Pandemiegeschehen. Eine solche Aufarbeitung sei essenziell, um auf künftige Pandemien besser vorbereitet zu sein. Hieraus könnten sich etwa für die Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes oder im Hinblick auf strukturelle Veränderungen bei gesundheitsbezogenen öffentlichen Einrichtungen wichtige Erkenntnisse ergeben. Ebenso spricht sich die Kommission für eine umfassende zeitgeschichtliche Aufarbeitung und historische Einordnung der Coronavirus-Pandemie aus; auch diese könnten viel zur Frage der Preparedness beitragen.
Der Abschlussbericht der Pandemiekommission findet sich im Internetangebot der DFG unter:
Zur Pandemiekommission und deren Arbeit sowie darüber hinaus auch zur Arbeit der DFG im Kontext der Coronavirus-Pandemie insgesamt informiert ebenfalls im DFG-Internetangebot ein ausführliches Dossier unter
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