Der Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hat die Einrichtung des Schwerpunktprogramms „Prozessübergreifende Modellierung in der Produktionstechnik“ (SPP 2476) beschlossen. Als Laufzeit sind sechs Jahre vorgesehen. Die DFG lädt hiermit ein zur Antragstellung für die erste dreijährige Förderperiode.
Problemstellung
Die industrielle Fertigung von Komponenten erfolgt durch die Verkettung mehrerer aufeinander aufbauender Fertigungsprozesse. Aus der sequenziellen Kombination ergeben sich Wechselwirkungen zwischen den Fertigungsverfahren. Effekte aus vorgelagerten Stufen können sich durch die Prozesskette fortpflanzen und dabei verstärken, vermindern oder auslöschen. Beispielsweise beeinflussen die in ur- und umformenden Prozessstufen induzierten Eigenspannungen eine spanende Nachbearbeitung. Dies kann zu einem unerwünschten geometrischen Verzug an der Komponente führen. Zusätzlich sind reale Fertigungsprozessketten durch auftretende Abweichungen der Bauteileigenschaften innerhalb spezifischer Schwankungsbreiten charakterisiert. Im Rahmen erreichbarer Modellgenauigkeiten können die Prozessketten somit nicht als vollständig deterministisches System betrachtet werden. Stattdessen sollte eine Beschreibung die in der Realität vorhandenen Unsicherheiten mitberücksichtigen.
Zur isolierten Auslegung von Einzelprozessen stehen bereits in vielen Fällen Methoden zur virtuellen Prozessmodellierung zur Verfügung, die sich im Hinblick auf Komplexität, Umfang und Anwendbarkeit unterscheiden. Diese haben für eine Vielzahl an Fertigungsverfahren bereits einen hohen Reifegrad erreicht. Für die Auslegung innerhalb von Prozessketten existieren zudem Ansätze zur Verbindung mehrerer Einzelmodelle. Diese Verbindung erfolgt sequenziell, indem Ergebnisdaten aus einer vorherigen Stufe als Eingangsdaten in eine nachfolgende Stufe übertragen werden. Derzeit erfolgt somit keine Kopplung der Prozessparameter über die Prozessschritte hinweg. Eine Optimierung erfolgt daher lediglich in den individuellen Fertigungsschritten. Deshalb ist es durch dieses Vorgehen nicht möglich, eine gemeinsame, globale Optimierung hinsichtlich der im Lastenheft definierten Zielgrößen über die Prozesskette hinweg durchzuführen, sofern eine signifikante Abhängigkeit der Zielgröße von einem vorhergehenden Prozessschritt vorliegt.
Ziele des SPP
Der Kerngedanke des Schwerpunktprogramms ist die Reformulierung der Prozesskettenauslegung als rückwärtsgerichtete Problemstellung ausgehend von der herzustellenden Komponente unter Berücksichtigung stochastischer Unsicherheiten. Ziel ist es, bisher ungenutzte Synergien zwischen Fertigungsschritten zu identifizieren, zu modellieren und schließlich explizit nutzbar zu machen. Dies geschieht einerseits für die Prozessketten der individuellen Teilprojekte und andererseits durch die Zusammenarbeit im Schwerpunktprogramm im Rahmen von Arbeitskreisen für verallgemeinerte Problemstellungen, indem Herangehensweisen und Methoden erarbeitet und abstrahiert werden.
Die bisher nur innerhalb von Fertigungsstufen genutzte inverse Analyse wird auf die Auslegung vollständiger Prozessketten übertragen. Es wird ein methodischer Ansatz eingeführt, um das aktuell ungenutzte Potenzial gegenüber einer rein sequenziellen Auslegung zu erschließen. Dies erfolgt durch die Aufstellung eines gemeinsamen Gesamtmodells, welches für eine multikriterielle Optimierung genutzt wird. Hierbei ermöglicht beispielsweise eine Gewichtung der angelegten Kriterien innerhalb einer Zielfunktion, zielgruppenspezifische Produktvarianten auszulegen. Dazu kann die individuelle Gewichtung verschiedener technischer Ziele oder die Gewichtung von technischen Zielen gegenüber Kostenzielen geändert werden. Somit trägt dieses Schwerpunktprogramm zur Auflösung des Polylemmas der Produktion hinsichtlich Qualität (technische Ziele), Zeit, Kosten sowie der Ressourceneffizienz und der Emissionsvermeidung bei.
Die grundlegende Methodik der inversen Prozesskettenmodellierung kann auf eine Vielzahl unterschiedlicher Prozessketten angewendet werden. Es muss jedoch stets eine detaillierte Anpassung an die Gegebenheiten der jeweils vorliegenden Prozesse durchgeführt werden. Aufgrund der erforderlichen vielfältigen Kompetenzen ist dafür eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mehrerer Domänen notwendig: In der Materialwissenschaft und Werkstofftechnik erfolgt die Berücksichtigung der Mikrostrukturveränderungen über die gesamte Prozesskette hinweg. Zudem werden für die einzelnen Fertigungsverfahren jeweils passende Werkstoffmodelle benötigt, gegebenenfalls auf mehreren Größenskalen. Weiter trägt die Domäne Produktionstechnik, im Sinne einer Gestaltung optimaler Prozessfolgen, zum Aufbau der Einzelmodelle und der realen Umsetzung der Prozesse inklusive einer Fertigung der betrachteten Komponenten bei. Das Fachgebiet der Mess- und Sensortechnik führt die zerstörungsfreie Datenerhebung mit inline-geeigneten Sensorsystemen durch. Ein Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung und Implementierung von Sensorsystemen. Innerhalb einer Prozesskette können diese auf die kombinierten Daten mehrerer Stufen zugreifen.
Eingrenzung des Themas und Struktur des SPP
Folgende Anforderungen werden an die zu untersuchenden Fertigungsprozessketten gestellt:
Das Schwerpunktprogramm mit einer Dauer von sechs Jahren wird in zwei Phasen mit jeweils einer Dauer von drei Jahren unterteilt. In der ersten Phase erfolgt zunächst jeweils die konkrete Ausarbeitung der betrachteten Prozesskette. Dies stellt die Grundvoraussetzung dar, um die für die Analyse benötigte Sensorik identifizieren zu können. Hierbei ist es wichtig, eine möglichst umfangreiche Abbildung der Prozesskette mithilfe zerstörungsfreier Sensorik zu erreichen und im Aufbau der Prozesskette berücksichtigen zu können. Nicht direkt erfassbare Messgrößen können durch Techniken der Softsensorik einbezogen werden. Nach der Festlegung der Prozesskette müssen zunächst die Einzelprozesse an den beteiligten Forschungsstellen aufgebaut werden, bevor diese schließlich zu einer Prozesskette zusammengefügt werden. Eine externe Durchführung eines zentralen Prozessschrittes ist nicht ausreichend. Parallel zu diesem Schritt muss bereits die Ausarbeitung der einzelnen Abbildungsmodelle für die betrachtete Prozesskette erfolgen, wobei ein Kernpunkt die Berücksichtigung der Unsicherheiten ist. Hierbei muss bereits die inverse Lösbarkeit der Einzelmodelle für die Lösung des Optimierungsproblems der betrachteten Prozessschritte berücksichtigt werden und die Möglichkeit einer Modellkopplung vorgesehen werden. Sobald die Prozesskette aufgebaut ist und eine Datenstruktur zum Austausch und Zusammenführen der einzelnen Sensordaten aus den Prozessschritten implementiert wurde, muss in der ersten Phase eine vorwärtsgerichtete Unsicherheitsquantifizierung sowohl der Einzelprozesse als auch der Prozesskette bezüglich relevanter Störgrößen durchgeführt und mit experimentellen Daten validiert werden.
Auf Basis der Erkenntnisse aus der ersten Phase beginnt die zweite Phase mit der Anpassung bzw. Erweiterung der Modellierung der Prozesskette im Hinblick auf die inverse Analyse unter Einbeziehung der Unsicherheiten. Hierfür werden die Ergebnisse der Unsicherheitsquantifizierung aus der ersten Phase herangezogen und geeignete Methoden für eine Durchführung der übergreifenden inversen Analyse ausgewählt. Während der Ausarbeitung des inversen Modells werden unter anderem auch die eingesetzte Sensorik bzw. die Modelle für die Softsensoren aus der ersten Phase bezüglich ihrer Eignung für den Aufbau des inversen Prozessmodells überprüft und gegebenenfalls angepasst. Auf Basis des erarbeiteten Gesamtmodells erfolgt schließlich die globale multikriterielle Optimierung in Bezug auf das Lastenheft der zu fertigenden Komponente. Aufbauend auf den Ergebnissen der globalen Optimierung werden entsprechende Anpassungen an der Prozesskette umgesetzt. Diese erfolgen sowohl bezüglich der Einstellparameter als auch des Gesamtablaufs der Prozesskette. Damit werden die Ergebnisse des inversen Modells validiert, wobei auch die modellierten Unsicherheiten einbezogen werden. Abschließend können durch einen Vergleich der Ergebnisse aus der sequenziellen und der inversen Analyse deren Vor- und Nachteile sowie die jeweilige Anwendbarkeit der Methoden bewertet werden.
Die Begutachtung ist mit einem Antragskolloquium verbunden, welches voraussichtlich vom 11. bis 13. November 2024 in Garching bei München stattfindet.
Reichen Sie Ihren Antrag bitte bis spätestens 15. September 2024 bei der DFG ein. Die Antragstellung erfolgt ausschließlich über das elan-Portal zur Erfassung der antragsbezogenen Daten und zur sicheren Übermittlung von Dokumenten. Bitte wählen Sie unter „Antragstellung – Neues Projekt/Antragsskizze – Schwerpunktprogramm“ im elektronischen Formular aus der angebotenen Liste „SPP 2476 – Prozessübergreifende Modellierung in der Produktionstechnik“ aus. Ein weiteres Exemplar des Antrags ist in elektronischer Form an den Koordinator des SPP zu senden.
Berücksichtigen Sie bitte beim Aufbau Ihres Antrags das DFG-Merkblatt 54.01 zu Sachbeihilfen mit Leitfaden für die Antragstellung und die Hinweise im Merkblatt Schwerpunktprogramm 50.05, Teil B.
Handelt es sich bei dem Antrag innerhalb dieses Schwerpunktprogramms um Ihren ersten Antrag bei der DFG, beachten Sie, dass Sie sich vor der Antragstellung im elan-Portal registrieren müssen. Ohne Registrierung bis zum 2. September 2024 ist eine Antragstellung nicht möglich. Bitte wählen Sie im Registrierungsformular bei den abschließenden Angaben ebenso wie bei der Antragstellung Ihr Schwerpunktprogramm aus der angebotenen Liste der Ausschreibungen aus. Die Bestätigung der Registrierung erfolgt in der Regel bis zum darauffolgenden Arbeitstag.
Die DFG begrüßt ausdrücklich Antragstellungen von Forscher*innen aller Geschlechter und sexueller Identitäten, aus verschiedenen ethnischen, kulturellen, religiösen, weltanschaulichen oder sozialen Hintergründen, verschiedener Karrierestufen, Hochschultypen und Forschungseinrichtungen sowie mit Behinderung oder chronischer Erkrankung. Im Hinblick auf den fachlichen Schwerpunkt dieser Ausschreibung fordert die DFG insbesondere Wissenschaftlerinnen explizit auf, Anträge zu stellen.
Detaillierte Informationen zum Schwerpunktprogramm finden Sie im Internet unter:
www.mec.ed.tum.de/utg/dfg-schwerpunktprogramm-247
Das elan-Portal der DFG zur Einreichung der Anträge finden Sie unter:
https://elan.dfg.d
Die Merkblätter DFG-Vordruck 50.05 und 54.01 stehen unter:
www.dfg.de/formulare/50_0
www.dfg.de/formulare/54_0
Inhaltliche Fragen beantwortet Ihnen der Koordinator des Schwerpunktprogramms:
Professor Dr.-Ing. Wolfram Volk
Technische Universität München
TUM School of Engineering and Design
Lehrstuhl für Umformtechnik und Gießereiwesen
Walther-Meißner-Straße 4
85747 Garching
Tel. +49 89 289-13790
wolfram.volk@utg.d
Auskünfte zur Antragstellung bei der DFG erteilen:
Fachlich:
Dr.-Ing. Sebastian Heidrich
Tel. +49 228 885-2277
sebastian.heidrich@dfg.d
Formal:
Gudrun Freitag
Tel. +49 228 885-2623
gudrun.freitag@dfg.d