Im aktuellen Interview spricht das IPA (Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung) mit Dr. Katja Hartig, die in der DFG-Geschäftsstelle die ständige Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der DFG (MAK-Kommission) betreut, über die Bedeutung der Toxikologie für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und die sich daraus ergebenden Herausforderungen.
Liebe Frau Hartig, eine provokative Frage gleich zu Beginn: Sind die Beschäftigten am Arbeitsplatz angesichts der zunehmenden Digitalisierung noch immer so vielen Gefahrstoffen ausgesetzt, dass wir weiterhin eine Toxikologie benötigen?
Selbstverständlich brauchen wir auch weiterhin eine Toxikologie! Es ist zwar richtig, dass sich die Arbeitswelt gerade sehr verändert, unter anderem hin zu niedrigeren Expositionen gegenüber klassischen Gefahrstoffen am Arbeitsplatz. Neue Technologien gehen in ihrer Anwendung aber auch oftmals mit neuartigen Stoffen oder veränderten Stoffmischungen einher, deren gesundheitliche Auswirkung wenig untersucht ist. Inwiefern vor diesem Hintergrund Gesundheitsrisiken und infolgedessen bestehende Schutzkonzepte für den Umgang mit Gefahrstoffen an modernen Arbeitsplätzen – also Präventionsmaßnahmen – aus regulatorischer Sicht angepasst werden müssen, bleibt offen. Sicher wird es auch in Zukunft noch risikobehaftete Arbeitsplätze geben, an denen der Kontakt zu Gefahrstoffen nicht zu vermeiden ist. Hier ist die Toxikologie gefragt, denn auch in der jetzigen Arbeitswirklichkeit ist der Bedarf an toxikologischer Forschung weiterhin hoch. Für die Bewertung neuer Substanzklassen, bei neuen Erkenntnissen zu bekannten Stoffen oder für ein besseres konzeptionelles Verständnis von Wirkmechanismen als Grundlage für die Einordnung von Gefährdungen und Risiken bedarf es in erster Linie toxikologischer Expertise. Schließlich sorgen die beschleunigte Technologieentwicklung und Produktionsdynamik sowie die zunehmende Überlappung von Arbeits- und übriger Lebenswelt für noch komplexere Expositionsverhältnisse. Gesundheitsrisiken werden damit immer schwerer einschätzbar. Ich bin mir sicher, dass dies die Bedeutung der Toxikologie noch erhöhen wird. Alles in allem: Für die Toxikologie bleibt auch in Zukunft noch viel zu tun.
Gibt es denn auch gänzlich neue Chancen für die Toxikologie im digitalen Zeitalter?
Aus meiner Sicht bietet der digitale Wandel für die Toxikologie die neue Chance, in einem interdisziplinären Ansatz komplexere Fragestellungen übergreifender und detaillierter zu bearbeiten. Neue Methoden der Metaanalyse von umfangreichen und komplexen Datensätzen stellen die fachliche Kompetenz der Toxikologie beim Vergleich und der Zusammenführung von Erkenntnissen stärker in den Mittelpunkt als bisher. Ich bemerke, dass diese Entwicklungen aktuell auch zu einer Rückbesinnung auf den spezifischen Beitrag der Toxikologie im Wissenschaftsgefüge führen. Ich erwarte daher, dass die Bedeutung der Toxikologie spürbar zunehmen wird.
Welche Bedeutung hat die Toxikologie für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz genau?
Diese Frage zielt im Kern auf das Problem der Risikobewertung ab. Risikobewertung beruht im Grundsatz auf den Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen und Studien, die mit den in der Toxikologie praktizierten und anerkannten Methoden erarbeitet wurden. Es gilt also: Ohne toxikologische Studien und – soweit vorhanden – epidemiologische Daten, kann es keine verlässliche Risikoabschätzung geben.
Bei der Arbeit der ständigen Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der DFG wird das immer wieder deutlich, beispielsweise, wenn humanbezogene Daten zu Stoffen gänzlich fehlen. Die Kommission erarbeitet deshalb auf der Grundlage aller verfügbaren Daten Empfehlungen für die Einstufung von Stoffen bzw. für Grenzwerte. Diese Empfehlungen werden dann im Ausschuss für Gefahrstoffe als Grundlage für die gesetzlichen Regelungen verwendet. Somit tragen toxikologische Studien und Forschungsergebnisse sehr unmittelbar zur Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz bei.
Welchen Stellenwert hat die Toxikologie im Hinblick auf die Prävention von Berufskrankheiten?
Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeitsmedizin könnten das möglicherweise deutlich besser erklären. Aus Sicht der Toxikologie ist es jedenfalls unabdingbar, den Gefährdungsbereich eines Stoffes beziehungsweise den Wirkmechanismus genau zu kennen, um gesundheitliche Schäden zu vermeiden, sei es durch das Einhalten entsprechender Grenzwerte beziehungsweise die Festlegung von Präventionsmaßnahmen. Die Wirkmechanismen zu kennen und zu verstehen, eröffnet häufig auch neue Pfade für präventive und therapeutische Ansätze. Nicht zu vergessen ist dabei, dass es nicht allein um die Prävention von Berufskrankheiten, sondern häufig auch um die Vermeidung von Risiken für ungeborenes Leben geht.
Das Spektrum der Toxikologie, das Sie hier beschrieben haben, ist äußerst umfangreich und es besteht nach Ihrer Auffassung ein hoher Bedarf. Dennoch nimmt die Anzahl toxikologischer Lehrstühle an deutschen Hochschulen ab. Warum?
Diese Entwicklung gibt es seit Jahrzehnten und sie wurde auch schon in Stellungnahmen von Fachgesellschaften und der DFG thematisiert. Die Gründe sind sicher deutlich vielfältiger und komplexer, als ich es hier ausführen kann. Einer der Gründe ist nach meiner Beobachtung die fehlende Sichtbarkeit der toxikologischen Forschung. Auch die in der Toxikologie grundsätzlich angelegten Möglichkeiten und Chancen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Forschungsrichtungen finden sich in den an die DFG herangetragenen Forschungsideen viel zu selten. Die Toxikologie profitiert daher nur unzureichend von der mit der Interdisziplinarität einhergehenden methodischen Vielfalt und Wandlungsfähigkeit.
Im Vergleich von Publikationsleistungen, die meines Erachtens noch viel zu häufig als ordergründiges Kriterium für wissenschaftliche Qualität herangezogen werden, verliert die Toxikologie im Wettbewerb mit anderen Disziplinen in den Lebenswissenschaften. Erschwerend hinzu kommt ein hoher Bedarf von toxikologischer Expertise in der Industrie und in regulatorischen Behörden, so dass die Mehrzahl der eigentlich toxikologisch gut ausgebildeten Personen viel zu früh die Wissenschaft verlassen.
Sie sprechen hier unter anderem die hohe Attraktivität der Industrie für gut ausgebildete Fachtoxikologinnen und Fachtoxikologen an. Was muss sich langfristig ändern, damit auch die wissenschaftliche toxikologische Forschung an den Hochschulen wieder gestärkt wird?
Aus meiner Sicht muss sich die Toxikologie aus den gewohnten wissenschaftlichen Themenfeldern herausbewegen und sich in fachübergreifenden Konsortien zusammentun, um sich neben der Durchführung von Studien stärker innovativen, übergeordneten Fragestellungen zu widmen. Der Zeitpunkt jetzt wäre sehr günstig, denn die Expertise der Toxikologie ist gerade stärker denn je gefragt. Dieses Zeitfenster müssen wir nutzen!
Angesichts von REACH und den Herausforderungen nationaler ChemikalienGesetzesregelungen ist der Bedarf an toxikologischer Expertise ungebrochen. Wurde der Bedarf unterschätzt, insbesondere im Bereich der regulatorischen Toxikologie?
Nun, es ist ein neues Berufsfeld entstanden, wodurch sich im Vergleich zur wissenschaftlichen Laufbahn in Bezug auf die Ausstattung der Stellen attraktivere Karrierewege eröffnen. Aktuell bilden die Hochschulen primär für diesen Bereich aus und nicht für die Wissenschaft. Das ist selbstverständlich kein Zustand, der langfristig Bestand haben kann und darf. Eine Spaltung in diese beiden Berufsfelder lässt sich vermeiden, denn wissenschaftliche Expertise, Erfahrung und Ausrichtung werden auch im regulatorischen Bereich benötigt und umgekehrt. Darauf müssen wir unsere Anstrengungen ausrichten.
Herzlichen Dank Frau Dr. Hartig für die uns in diesem Interview gegebenen Einblicke!
Der Beitrag von Dr. Katja Hartig ist im IPA-Journal (01/2021 erschienen.