Wie lassen sich in der tierexperimentellen Forschung wissenschaftliche und ethische Erfordernisse stärker in Einklang bringen? Es bleibt ein Spagat zwischen Forschungsinteressen, Tierwohl und Tierschutz, den Brigitte Vollmar hier im Interview erläutert.
Prof. Dr. Brigitte Vollmar ist seit 2018 Vorsitzende der DFG-Senatskommission für tierexperimentelle Forschun.
Frau Professor Vollmar, wofür steht Ihr Institut für Experimentelle Chirurgie am nicht eben zentralen Standort Rostock?
Brigitte Vollmar: Das Institut steht für eine Forschungsarbeit, die von der Grundlagenwissenschaft bis zur anwendungsorientierten Forschung reicht. Wir verbinden die Pathophysiologie, also Fragen, wie es zu Erkrankungen kommt, mit dem Versuch, therapeutische Ansatze zu entwickeln. In unserer chirurgischen Tatigkeit arbeiten wir mit verschiedenen Tiermodellen, vom Kleintier bis zum Grostier. Was Rostock betrifft, so gibt es kaum einen anderen Ort in Deutschland, der in ähnlich konzentrierter und vernetzter Weise Studienarbeit in der Experimentellen Chirurgie ermöglicht.
Trotz Ihrer intensiven Forschungsarbeit sind Sie vor einem Jahr dem Ruf auf den Vorsitz der Ständigen Senatskommission für tierexperimentelle Forschung gefolgt. Warum?
Brigitte Vollmar: Als ich darauf angesprochen wurde, habe ich nur kurz daruber nachdenken müssen. Das hat mit meinem klinisch-chirurgischen Hintergrund zu tun, meinem Verständnis von Medizin und Krankenversorgung und der Tatsache, dass ich seit 30 Jahren auch eigene tierexperimentelle Forschung betreibe. Ich bin bei Tierversuchen mit allem Für und Wider, mit Chancen und Risiken vertraut. Auserdem habe ich eine zentrale Versuchstierhaltung an zwei Standorten [Homburg/Saar und Rostock] aufgebaut und profiliert, einschließlich der Zertifizierung im Rahmen eines Qualitätsmanagements. Mit dieser Expertise fühle ich mich sehr gut gewappnet für dieses Amt. Vor allem sehe ich die Sinnhaftigkeit. Die Senatskommission ist notwendig fur alle grundsätzlichen Fragen im Zusammenhang mit tierexperimenteller Forschung. Dazu leiste ich gerne meinen Beitrag.
Was stand im ersten Jahr im Vordergrund?
Brigitte Vollmar: Nicht anders als erwartet ging es als Kernaufgabe darum, sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen. Die Sichtweisen aus der Wissenschaft einzubringen und Gesetzgebungsverfahren mit wissenschaftlicher Expertise zu begleichen – das ist eine Herausforderung auf nationaler und europäischer Ebene. Eine Frage ist dabei, wie die Belange und Anliegen aus der Wissenschaft adäquat abgebildet werden können.
Jüngstes Ergebnis der Kommissionsarbeit ist eine Stellungnahme zum Thema „Genehmigungsverfahren für Tierversuche“. Welchen Hintergrund hat diese?
Brigitte Vollmar: Sie nimmt Bezug auf die neue EU-Richtlinie, die Novellierung des Tierschutzgesetzes 2013 und die tatsächliche Verfahrenspraxis bei der Genehmigung von Tierversuchen. Erkannt wurde, dass es erhebliche Rechtsunsicherheiten gibt, die zu unterschiedlichen Verfahrensweisen der Genehmigungsbehörden führen. Die Dauer der behördlichen Genehmigungsverfahren unterscheidet sich sehr von Bundesland zu Bundesland. Das hat unterschiedliche Konsequenzen bis hin zu forschungsbehindernden Situationen. Über die Bestandsaufnahme hinaus haben wir in der Stellungnahme auch Lösungsansatze erarbeitet, die wir an die Akteure herantragen – die Ministerien und Behörden, die Universitäten und Forschungseinrichtungen und schließlich die Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler selbst.
Darüber hinaus ist Brigitte Vollmar Direktorin des Rudolf-Zenker-Instituts für Experimentelle Chirurgie und Leiterin der Serviceeinrichtungen Zentrale Versuchstierhaltung und Multimodale Kleintierbildgebung an der Universität Rostock. Vollmar, Jahrgang 1961, studierte Medizin an der LMU München und habilitierte sich an der Universität des Saarlandes, bevor sie 2002 nach Rostock berufen wurde. Über ihre disziplinäre Arbeit hinaus engagierte sie sich in zahlreichen Fach- und Forschungsgremien. Sie war Fachkollegiatin der DFG und ist Mitglied der DFG-Senatskommission für Grundsatzfragen der Klinischen Forschung.
Wie lautet Ihr politischer Appell?
Brigitte Vollmar: Ein Appell ist die Harmonisierung des Tierschutzgesetzes auf Länderebene. Im geltenden Tierschutzgesetz ist vorgeschrieben, wie lange die Beantragung eines Projekts dauern soll. Der Appell ist deshalb die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Regelungen. Zugleich appelliert die Senatskommission an die Verantwortung der Wissenschaft für den zügigen und professionellen Ablauf der Genehmigungsverfahren.
In der Öffentlichkeit sind Tierversuche ein Reizthema – längst nicht nur für Tierschutzaktivisten. Warum ist aus Ihrer Sicht tierexperimentelle Forschung notwendig?
Brigitte Vollmar: Wir glauben, dass Tierversuche unverzichtbar sind und es für absehbare Zeit und für den Fortschritt in der biomedizinischen Forschung bleiben werden. Die Vorstellung, man könnte komplett aussteigen, verkennt die Sachlage und ignoriert das Anliegen, für das Wohl und die Gesundheit von Mensch und Tier zu forschen. Ohne Grundlagenforschung würde es langfristig zu einer inadäquaten Versorgung des Patienten kommen, weil wissenschaftlicher Fortschritt nicht mehr gewährleistet ist. Wann immer die Möglichkeit besteht, kann und sollte auf tierversuchsfreie Methoden übergegangen werden. Doch bei den sogenannten Alternativmethoden muss auch gewährleistet sein, dass die damit gewonnenen Ergebnisse eine ähnliche Aussagekraft haben.
Was antworten Sie Kritikern, die die „Transferierbarkeit“ von Erkenntnissen vom Tiermodell auf den Menschen für Wunschdenken halten?
Brigitte Vollmar: Richtig ist, dass das Tierexperiment von heute nicht zwangsläufig den medizinischen Fortschritt von morgen macht. Aber es wird Wissen generiert, das für die Zukunft nutz- und anwendbar ist. Das bestätigt übrigens die Geschichte der Nobelpreise. Wann etwas erkannt und beschrieben wurde, ist das eine, wann seine Wertigkeit genutzt wird, etwas anderes. Dazwischen können Jahrzehnte liegen.
Was sind die Möglichkeiten, was die Grenzen der von Ihnen angesprochenen Alternativmethoden?
Brigitte Vollmar: Von Alternativmethode zu Alternativmethode gibt es Potenziale und Begrenzungen, wie bei anderen Methoden auch; das ist nicht spezifisch. Nicht neu, aber vielversprechend sind die In-vitro-Analysen, die jetzt ihr Label als „Alternativmethode“ bekommen haben. Jeder Wissenschaftler muss aus einem breiten Spektrum an Methoden immer wieder neu diejenigen auswählen, die für die Aufklärung einer Forschungsfrage am besten geeignet sind. Häufig ist die Kombination verschiedener Methoden notwendig; Tierversuche spielen dabei eine wichtige Rolle.
Wie können Tierschutz und Tierwohl langfristig sichergestellt werden?
Brigitte Vollmar: Replace, Reduce, Refine – das 3RKonzept ist entscheidend. Es ist auch ein gesetzlicher Auftrag und ein Handlungsrahmen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen aus gutem Grund Gesichtspunkte der 3R bei der Versuchsplanung berücksichtigen. Die Bedeutung der 3R konnte in den wissenschaftlichen Communities und in der Öffentlichkeit noch weit mehr verankert werden. Es gilt immer, ethische Abwägungen zwischen Rechtsgütern vorzunehmen und abzuwägen zwischen Nutzen, Erkenntnisgewinn und Belastung der Versuchstiere. Aus Sicht der Senatskommission soll die Belastung der Tiere weitestgehend minimiert werden. Zugleich geht es darum, durch ein Forschungsdesign Erkenntnisse zu maximieren. Nichts ist schlimmer als die Nutzung eines Tieres für schlecht designte Forschung.
Wenn man sich den Vorwurf zu eigen macht, dass die DFG vor allem Mainstream-Themen und -Projekte fördere – haben es Alternativmethoden da nicht per se schwerer?
Brigitte Vollmar: Anträge bei der DFG sind themenoffen und folgen dem Bottom-up-Prinzip. Das Begutachtungsverfahren ist strikt auf wissenschaftliche Qualitätskriterien ausgerichtet. Das ist ein herausragendes Gut in der Wissenschaft und ihrer Förderung. So groß wie die thematische Bandbreite ist auch die Bandbreite der eingesetzten Methoden. In den Lebenswissenschaften werden in etwa einem Drittel aller Projektanträge Mittel für Versuchstiere beantragt. Und in aller Regel beruhen diese Projekte nicht allein auf Tierversuchen, sondern auf einer Kombination von Methoden. Die DFG fördert also – quasi nebenbei – in großem Umfang Forschungsarbeiten, die zur Entwicklung, Etablierung und Verbesserung tierversuchsfreier Methoden beitragen. Nur tragen diese Projekte kein gesondertes Label als Kennzeichnung von Ersatz- und Erganzungsmethoden. Auserdem gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Verbundforschungsprojekten, die sich ganz gezielt mit Fragestellungen im Sinne des 3R-Prinzips beschäftigen, so zum Beispiel mit der Einschätzung der Belastung von Versuchstieren oder mit der Weiterentwicklung von Gewebemodellen.
2,8 Millionen Versuchstiere wurden 2016 verbraucht, davon 40 Prozent für die Grundlagenforschung, der Rest von der anwendungsorientierten Forschung. Ist das verantwortbar?
Brigitte Vollmar: Ja, das sind korrekte Zahlen. Aber bitte bedenken Sie, wie viel mehr Tiere für unsere Ernährung und sonstige Nutzansprüche des Menschen genutzt werden. Wichtig ist, dass Grundlagenforschung übergeht in die Anwendungsforschung und umgekehrt. Davon zu unterscheiden sind die wiederkehrenden Testungsversuche der Pharmaforschung an Tieren.
In den Niederlanden hat eine Kommission 2016 ein Szenario für den Ausstieg aus der tierexperimentellen Forschung erarbeitet. Sollten wir dem nicht folgen?
Brigitte Vollmar: Ich halte das nicht für realistisch, ja mehr noch für gefährlich. Und ich halte es für unanständig, suggerieren zu wollen, dass das möglich ist. Die Erfahrung in den Niederlanden zeigt, dass da zurückgerudert werden muss. Wenn man das Papier genau liest, stellt man außerdem fest, dass der Verzicht auf Tierversuche sowieso nur für einen eng begrenzten Bereich in Betracht gezogen wurde, in der Grundlagenforschung aber als unrealistisch eingeschätzt wird.
Was wünschen Sie der tierexperimentellen Forschung in Deutschland?
Brigitte Vollmar: Dass wir es schaffen, eine höhere Akzeptanz für die tierexperimentelle Forschung zu schaffen. Das ist sicher eine der essenziellen Aufgaben der Kommission. Fachlich getragene, nicht emotionale und dichte Informationen können auch in kontrovers geführten Debatten helfen. Hier hat es sicher auch Versäumnisse seitens der wissenschaftlichen Communities gegeben. Auf der anderen Seite wünsche ich mir die verstärkte und aufrichtige Förderung von alternativen Methoden. Kein Wissenschaftler hat das Ziel, Tieren Leid und Belastung zuzufügen. Und für die unvermeidlichen Tierversuche wünsche ich mir, dass sie noch besser und schonender für die Tiere werden.
Der Artikel ist unter dem Titel "Mit allem Für und Wider" im Magazin "forschung" (4/2018 erschienen.