(05.11.20) Die gemeinschaftliche und interdisziplinäre Forschung wird weltweit immer erfolgreicher. Der Austausch von Ideen, unter Einfluss ganz unterschiedlicher akademischer Erfahrungen, hat sich nicht nur für die Wissenschaftsgemeinschaft, sondern für die Gesellschaft als Ganzes als produktiv erwiesen.
Im Jahr 2020 wurde das erste Internationale Graduiertenkolleg (IGK) in Zusammenarbeit mit Brasilien abgeschlossen. Das IGK finanzierte die DFG gemeinsam mit ihrer brasilianischen Partnerorganisation FAPESP (Stiftung zur Forschungsförderung des Bundesstaates São Paulo).
Das deutsche Wort „Netz“ leitet sich vom althochdeutschen Wort nezzi ab. Man vermutet, dass dieses Wort wiederum auf das lateinische Wort nodus (Knoten) zurückgeht, die ursprüngliche Bedeutung wäre also „das Geknotete, das Geknüpfte“. Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Netzwerken. Unser Gehirn hat zum Beispiel eine Netzstruktur, weiterhin können wir an die Meteorologie denken, an das Stromnetz in einer Region oder sogar an Social Media. All dies sind gute Beispiele für Strukturen, die in Netzwerken arbeiten. Vor dem Hintergrund dieser Vielfalt an Möglichkeiten schlossen sich Physiker, Mathematiker, Klimatologen, Biologen und Geografen der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB), des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), der Universidade de São Paulo (USP) und des brasilianischen Instituts für Weltraumforschung (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais, INPE) 2011 in einem Internationalen Graduiertenkolleg (IGK) zusammen. Sie wollten die Funktionsweise großer komplexer Systeme in verschiedenen Anwendungsbereichen, von den Neurowissenschaften, Ingenieur- und Geowissenschaften bis hin zu Soziologie und Wirtschaft, verstehen.
„Die gelungene Realisierung unseres anspruchsvollen und interdisziplinären Ausbildungsprogramms inklusive längerer Forschungsaufenthalte aller Promovierenden bei der Partnerseite ist sicher ein hart erkämpfter und zugleich herausragender Erfolg. Darauf können zukünftige IGK hoffentlich aufbauen“, bilanziert der IGK-Sprecher Professor Dr. Jürgen Kurths vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Ein IGK ist eine Modalität der Doktorandenausbildung, die exzellente Forschung mit der Ausbildung und gemeinsamen Betreuung deutscher und ausländischer Promovierender verbindet. Projekte dieser Art können bis zu neun Jahre dauern (zwei Phasen von 4,5 Jahren) und werden von Hochschuldozenten beider Länder koordiniert. Das Programm ermöglicht deutschen und ausländischen Universitäten, ein gemeinsames Forschungsprojekt mit einem breiten oder interdisziplinären Thema zu entwickeln und zu koordinieren, innerhalb dessen sie den Promovierenden eine hochqualifizierte und forschungsorientierte Ausbildungsstruktur mit Kursen und individueller Betreuung anbieten. Voraussetzung dafür ist, dass die beteiligten Promovierenden einen Teil ihrer Forschung an der jeweiligen Partnerinstitution im Ausland durchführen; dafür sind Aufenthalte von bis zu einem Jahr vorgesehen.
Das Graduiertenkolleg „Dynamische Phänomene in komplexen Netzwerken“ war das erste Internationale Graduiertenkolleg, das gemeinsam von Forscherinnen und Forschern aus Deutschland und Brasilien durchgeführt wurde. Entsprechend aufwendig war es zunächst, die administrativ und kulturell unterschiedlichen Systeme der Doktorandenausbildung aufeinander abzustimmen. So beschreibt es der Koordinator des IGK für die brasilianische Seite, Professor Dr. Elbert E. N. Macau vom brasilianischen Institut für Weltraumforschung (INPE): „Die größte Herausforderung bestand darin, die Menschen miteinander bekannt zu machen, damit sie ihre jeweiligen Arbeitsweisen verstehen und beginnen zu interagieren.“ Das sei gelungen, wie auch Professor Dr. Kurths bestätigt: „Wir haben es in konzertierter Aktion geschafft, und die vielen sehr erfolgreichen Abschlüsse sind ein wunderbarer Beleg. Wichtig dabei war auch stets die Hilfe von DFG und FAPESP.“
Die DFG finanzierte die deutschen Forscherinnen und Forscher; die Brasilianerinnen und Brasilianer erhielten Mittel von der FAPESP über das Förderprogramm Projeto Temático. Eines der Hauptziele dieses interdisziplinären IGK war der Aufbau eines strukturierten Doktorandenprogramms, das die Arbeit an Projekten im Bereich der Netzwerktheorie und ihren verschiedenen Anwendungsbereichen ermöglicht. Die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler seien bald zum „eigentlichen Motor“ des IGK geworden, berichten die Professoren Kurths und Macau. Zu den Inhalten gehörten unter anderem moderne theoretische Konzepte und die Ausbildung in Netzwerkanwendungen, einschließlich praktischer Erfahrungen mit den entsprechenden Experimenten.
Das erste IGK in Zusammenarbeit mit Brasilien dauerte etwa zehn Jahre und umfasste vier Hauptgebiete. Während dieser Zeit wurden insgesamt 264 Artikel in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wie Nature, The European Physical Journal, Climate Dynamics usw. Zu den Themen gehörten zum Beispiel: allgemeine Aspekte der Netzwerkdynamik; Stochastische Dynamik und Transport; Terrestrisches System und neuronale Netzwerke; insgesamt wurden in diesen Bereichen 87 Promotionen abgeschlossen.
Ein Schwerpunkt des IGK waren unter anderem die Prinzipien der Selbstorganisation in zeitlich veränderlichen, komplexen Netzwerken. Um diese Ansätze realitätsnäher zu gestalten, wurden zusätzlich Einflüsse von Netzwerkheterogenitäten, multiskaligen zeitlichen Verzögerungen sowie von stochastischen Quellen erforscht.
Diese theoretischen Studien wurden eng mit der Untersuchung experimenteller und natürlicher Netzwerke zunehmender Komplexität, von Lasern über hybride Neuronennetzwerke bis hin zum Erdsystem verknüpft. Letzteres ist eine besondere Herausforderung für die Netzwerktheorie und war eines der Hauptthemen des IGK, in erster Linie, um die Funktionsweise von Teilsystemen der Erde unter sich wandelnden Bedingungen besser zu verstehen, wobei besonders Einflüsse wie die globale Erwärmung und die Abholzung der Regenwälder im Amazonasgebiet untersucht wurden. Bereits vor Start des IGK habe es vereinzelt bilaterale Kooperationen zu diesen Themen gegeben, erläutert Professor Dr. Kurths, aber erst durch das IGK sei „die Zusammenarbeit auf eine stark erweiterte und wirklich interdisziplinäre Stufe“ gehoben worden. „Es haben sich viel mehr Kolleginnen und Kollegen beider Seiten beteiligt und sehr produktiv zusammengefunden in enger Verbindung von Forschung und Lehre. Das betrifft insbesondere die Zusammenarbeit von Netzwerkwissenschaft mit Klimatologie und Neurologie“, resümiert er die Erfolge des Programms.
Die Zusammenarbeit führte auch zu überraschenden Ergebnissen, so zum Beispiel mit Blick auf die Methodik komplexer Netzwerke. In diesem Bereich, erläutert Professor Dr. Macau, „gab es beträchtliche Entwicklungen im theoretischen Ansatz, der sich in den verschiedensten Anwendungssituationen als flexibel und effektiv erwiesen hat und somit eine stets angemessene Analyse des zu analysierenden Problems ermöglichte.“
Das Programm beinhaltete eine Doppelbetreuung jedes Promovierenden auf deutscher und brasilianischer Seite, mit Workshops und praktischen Lernerfahrungen vor Ort, aber auch den Einsatz innovativer Formen des Lernens, wie Telekonferenzen, E-Learning und einer Wikiversity. Zudem wurde ein besonderer Schwerpunkt auf den Erwerb sozialer Kompetenzen gelegt. Die Humboldt Graduate School (HGS) sowie die entsprechende Organisation an der Universität São Paulo (USP) boten die dafür notwendigen Voraussetzungen.
Die Abschlussveranstaltung war für März dieses Jahres geplant, musste aber aufgrund der Coronavirus-Pandemie verschoben werden. Der Erfolg des ersten Internationalen Graduiertenkollegs in Brasilien weckt positive Erwartungen, dass in weiteren Bereichen neue Kollegs gebildet werden können. Neben FAPESP in Brasilien sind auch CONACYT in Mexiko und CONICET in Argentinien Partner in der gemeinsamen, erfolgreichen Förderung von Internationalen Graduiertenkollegs.