Für die jüngste, diesmal virtuelle Tagung des Euroscience Open Forum (ESOF) hatte die American Association for the Advancement of Sciences (AAAS) für den Abend des 4. September eine Expertenrunde zur Frage organisiert, wie die Integrität des Wissenschaftssystems unter dem derzeitigen Druck der Coronavirus-Pandemie bewahrt werden könne. Als Präsidentin einer wichtigen Forschungsförderorganisation war Katja Becker eingeladen. Moderiert von Rick Weiss, dem Direktor einer Informationsplattform für Wissenschaftsjournalisten bei der AAAS (SciLine), diskutierte sie mit Dominique Brossard, Professorin für Wissenschaftskommunikation an der University of Wisconsin-Madison, Sudip Parikh, CEO der AAAS und der auf Infektionskrankheiten spezialisierten Wissenschaftsjournalistin Helen Branswell.
Im Mittelpunkt standen die besonderen Herausforderungen, denen sich das im Regelfall gut eingespielte System von Wissensproduktion, Ergebniskontrolle und –veröffentlichung und schließlich der Rückkopplung von wissenschaftlicher Forschung in Politik und Gesellschaft derzeit ausgesetzt sieht. Eine besondere Rolle kommen dabei den Preprints zu, einem im Wissenschaftssystem bereits fest etablierten Biotop von noch nicht durch Peer Review überprüften und in qualitätsgesicherten Zeitschriften veröffentlichten Ergebnissen. Sie haben ihren Nutzen innerhalb des Systems durch einen sehr viel schnelleren und unmittelbaren Austausch von Ideen und Konzepten, bei geringen Risiken, denn die wissenschaftliche Community ist sich der Tatsache sehr bewusst, dass es sich nicht um gesicherte Erkenntnisse handelt.
Bereits bei der Wissenschaftspresse verschwindet dieser Erkenntnisvorbehalt allerdings rasch, vor allem, wenn sich aus Preprints öffentlichkeitswirksame oder gar politisch instrumentalisierbare „Stories“ für stark überhitzte Themenfelder wie Covid-19 stricken lassen, wofür Branswell einige Beispiele auflistete. Die Pandemie, so Becker, gehe auf diese Weise mit einer „Epidemie der Falschinformationen“ einher, der die Wissenschafts- und auch Förderorganisationen mit Hilfe von verantwortungsbewussten Journalisten sowie den Wissenschaftskommunikatoren wie AAAS und ESOF entschieden entgegentreten müssten. Brossard gab zu bedenken, dass im Wissenschaftsjournalismus hohe Sorgfaltsstandards üblich seien, doch komme es an den Rändern unter mittlerweile auch ökonomischem Druck jetzt häufiger zu Schnellschüssen, die sich in den sozialen Medien dann in Sekundenschnelle verbreiteten. Journalisten bedienen sich auf den zahlreichen Preprint-Servern, finden interessante Vermutungen bzw. Teilerkenntnisse und bauen sie zu einer „gesicherten Erkenntnis“ zusammen. Diese Prozesse, so Parikh, verselbstständigten sich gerade in Zeiten wie diesen wegen eines öffentlichen Informationsbedarfs, der weder Geduld noch inhaltliche Trennschärfe eines wissenschaftlichen Diskurses aufbringe.
Wenngleich für eine Organisation wie die DFG, so Becker, der auf rasche Ergebnisse ausgerichtete Druck von Öffentlichkeit und Politik bei den Förderentscheidungen keine Rolle spiele, sei es dennoch auch für die DFG von höchstem Interesse, dass das Vertrauen in wissenschaftliche Forschung nicht durch ungesicherte Erkenntnisse oder gar Falschinformationen untergraben werde. Nur durch eine der Verantwortung angemessene Sorgfalt im Umgang mit wissenschaftlichen Vermutungen oder noch ungesicherten Erkenntnissen, da waren sich alle Diskussionsteilnehmer einig, könne das essentielle Vertrauen in das Wissenschaftssystem und seine Methoden erhalten bleiben. Hier bestehe ein großer und derzeit akuter Schulungsbedarf.