(16.02.21) Dr. Iris Elser hat im Herbst 2019 als Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ihren zweiten, nun internationalen Postdoc in der Gruppe von Douglas Stephan an der University of Toronto begonnen und beforscht dort frustrierte Lewis-Paare. Sie sprach mit dem Nordamerika-Büro der DFG unter anderem über ihr Erkenntnisinteresse, ihre beruflichen Ambitionen, das Leben in Kanada in der Spätphase der Ära Trump und über Kochen.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert mit dem Forschungsstipendium und seit 2019 mit dem Walter Benjamin-Stipendium die Grundsteinlegung für wissenschaftliche Karrieren durch Finanzierung eines eigenen, unabhängigen Forschungsvorhabens im Ausland und seit 2019 auch in Deutschland. Ein großer Teil dieser Stipendien wird in den USA und zu einem kleineren Teil auch in Kanada wahrgenommen, Ausdruck einer in vielen Wissenschaftsbereichen immer noch herrschenden Überzeugung, dass „in Amerika gewesen“ zu sein für die Karriere hilfreich sei. In einer Reihe von Gesprächen möchten wir Ihnen einen Eindruck von der Bandbreite vermitteln; in dieser Ausgabe, wer sich hinter der Fördernummer EL 1045 verbirgt.
DFG: Liebe Frau Elser, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch nehmen. Sie forschen derzeit zu frustrierten Lewis-Paaren, sind aber weder Psychologin, noch Soziologin, sondern Chemikerin. Das wirft Fragen auf.
Iris Elser (IE): Herzlichen Dank für diese Gelegenheit zu einem Gespräch und auch ein herzliches Dankeschön an die DFG für das Postdoc-Stipendium, mit dem ich in der Tat derzeit in der Gruppe von Doug Stephan einer Fragestellung aus der Chemie nachgehe. Für den allerersten Einstieg: Wie Menschen auch, so haben Elemente ihre jeweils bevorzugte Form des Seins und sie sind mehr oder weniger geneigt, bestimmte Bindungen einzugehen. Gelingt das nicht, und das ist für Laien erstaunlich häufig der Fall bzw. wird von mir in meiner Arbeit provoziert, können Frustrationen die Folge sein. Spannend ist für mich dann das Verhalten unter den Bedingungen der Frustration. Unter Lewis-Paaren verstehen Chemikerinnen und Chemiker allerdings nicht Frau und Herrn Lewis, sondern Verbindungen im Säure-Base-Konzept von Gilbert Newton Lewis, einem US-amerikanischen Theoretiker der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Beantwortet das einen Teil Ihrer Fragen?
DFG: Ja, lieben Dank. Sie haben Ihr Abitur am Hegel-Gymnasium in Stuttgart mit Notendurchschnitt 1,5 abgelegt. Es standen Ihnen also die allermeisten Studienfächer offen. Warum ist es Chemie geworden?
IE: Ein super Biologielehrer trägt dafür einen Großteil der Verantwortung. Ich hatte mich zunächst sehr für Biochemie interessiert und es hätte auch Medizin werden können. Doch als ich in diesem Fach meinen Studienplatz bekam, studierte ich schon drei Monate Chemie und der Rest ist Geschichte. Eine familiäre Prädisposition sehe ich rückblickend auch nicht. Meine Mutter ist Lehrerin, mein Vater Architekt und aus meiner jüngeren Schwester ist mittlerweile eine Kybernetikerin geworden. Unsere Eltern haben uns dankenswerterweise immer vertrauensvoll unterstützt.
DFG: Sie sind zum Studium dann auch nicht gleich in die Ferne geschweift, sondern haben am Institut für Polymerchemie (IPOC) der Universität Stuttgart unter Anleitung von Professor Buchmeiser mit sehr guten Ergebnissen Ihren Bachelor und Ihren Master gemacht und schließlich auch summa cum laude bei Ihm promoviert. Wurde Ihnen das nicht irgendwann mal zu eintönig?
IE: Nein, denn zum einen bin ich sehr heimatverbunden und zum anderen – und vermutlich viel wichtiger – ist das IPOC eine der wirklich führenden Einrichtungen ihrer Art in Deutschland mit einem überdurchschnittlich hohen Frauenanteil und sehr starker internationaler Beteiligung und Ausstrahlung. Zudem konnte ich bei Professor Buchmeiser eine sehr breite Ausbildung genießen und war gleich mit meinem ersten Postdoc Teil des damals neuen Sonderforschungsbereichs „Molekulare heterogene Katalyse in definierten, dirigierenden Geometrien“ (SFB 1333). Was will man mehr?
DFG: Sie haben dann aber doch mehr gewollt. Wie kam’s?
IE: Ein Kollege von mir war nach Münster gewechselt und kam dort in Kontakt mit Doug Stephan. Er gab mir den Tipp, doch mal seine Webseite zu konsultieren. Dort begegnet man nicht nur einem breiten Spektrum derzeit bearbeiteter Fragestellungen der anorganischen Chemie, sondern auch Fotos von der Ausstattung des Labors. 18 Arbeitsplätze an neun Glove Boxes, Sie wissen, diese Handschuhkästen zum Arbeiten in kontrollierten Atmosphären, dazu noch zwei Großraum-Labore mit Abzügen, das ist schon was, da bekommt man was gebacken. Dazu noch die entsprechenden Mess- und Analysegeräte, state-of-the-art, versteht sich, und – wie ich mittlerweile kennen- und schätzen gelernt habe – ein weiterer Forschungsgruppenleiter, der sehr viel Begeisterung ausstrahlt.
DFG: Sie backen aber nicht wirklich, oder? Was machen Sie genau?
IE: Nicht wirklich, aber es gibt durchaus ein paar Parallelen. So wird zum Beispiel ein Großteil meiner „Zutaten“ ebenfalls im Kühlschrank aufbewahrt und wie beim Backen auch muss ich mit den Einwaagen sehr genau sein, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. In meinem Laboralltag sitze ich nach sorgfältiger Planung vor allem an der Glove Box, wiege meine Reagenzien ein mische sie je nach Reaktion gekühlt oder bei Raumtemperatur in einem geeigneten Lösemittel zusammen und lasse sie dann in einem kleinen Schraubdeckelglas oder einem Kolben rühren. Währenddessen nehme ich Proben, die ich dann in speziellen luftdichten Proberöhrchen aus der Glove Box „ausschleuse“ und vor allem mit NMR-Spektroskopie (ähnlich zum MRT beim Arzt) analysiere. Bin ich mit dem Ergebnis zufrieden wiederhole ich die Reaktion in einem größeren Maßstab und versuche das gewünschte Produkt durch Kristallisation oder Waschen mit verschiedenen Lösemittel zu isolieren und dann zu charakterisieren. Bin ich nicht zufrieden ändere ich systematisch Temperatur, Lösemittel und Mischungsverhältnis und beginne von vorne. Der größte Unterschied zum Backen ist vermutlich die Tatsache, dass ich unter keinen Umständen Wasser oder Luft in der Nähe meiner Reaktionen haben möchte und es außerdem strengstens vermeide, mein Produkt zu essen.
DFG: Das klingt alles ein wenig nach Kochen. Kochen Sie auch zu Hause und wenn ja, was ist Ihr „signature dish“?
IE: Chemie hat in vielerlei Hinsicht etwas mit Kochen gemeinsam, nicht nur das Wort, mit dem man in der Chemie das systematische Abarbeiten in Tabellen gelisteter Rezepturen beschreibt. Das sind die Vorschriften. Wie in der eigenen Küche, so steht man aber auch im Labor gelegentlich vor Situationen, die ein wenig Improvisation, vielleicht auch das Fingerspitzengefühl erfordern, mit der sie die Prise Salz für die gelungene Suppe bemessen. Als Schwäbin bin ich natürlich stolz auf meine Maultaschen und wollte damit in meiner Wohngemeinschaft in Toronto über Weihnachten auftrumpfen. Leider konnte ich meine Nudelmaschine aus Stuttgart nicht für den Postdoc mit nach Toronto bringen und leider ist Lasagne-Teig für Maultaschen eher ungeeignet. Man nennt das hier „20/20 hindsight“: Ich war nach Weihnachten ein Stück weit klüger. Meinen beiden Mitbewohnerinnen hat es trotzdem sehr gut geschmeckt.
DFG: Sind Ihre Mitbewohnerinnen auch Chemikerinnen?
IE: Nein, die eine ist Biomedizinerin und kommt aus Spanien und die andere ist eine kalifornische Studentin des Gesundheitswesens. Es ist schon eine sehr bunte Mischung, nicht nur im Labor und im Wohnumfeld, sondern in Toronto insgesamt.
DFG: Für unsere Leserinnen und Leser ohne entsprechende Ortskenntnis, können Sie das ein wenig ausführen.
IE: Gerne: Toronto liegt an einem der Großen Seen und das Attribut ist ernst gemeint. Das sind schon riesige Wasserflächen, die auch das lokale Klima stark beeinflussen. Jetzt im Winter kann es sehr, sehr kalt werden, uns fehlen hier schließlich die Alpen zum Schutz vor polarer Luft. Man hat darum die ganze Stadt mit einem Netz von Gängen und Einkaufspassagen untertunnelt, so dass man unterirdisch von A nach B kommt, wenn man möchte. Im Sommer ist es dagegen mitunter so schwül, dass es Auswirkungen auf die Arbeit im Labor haben kann. Ich bin aber sehr glücklich hier in der Stadt, habe mir als eine der ersten Anschaffungen ein Fahrrad zugelegt, weil Entfernungen hierzulande doch erheblich größer sind. Mit dem Fahrrad bin ich von Zuhause aus in 15 Minuten am See. Dort gibt es dann im Sommer auch einen Halbmarathon, an dem ich gerne teilnehmen möchte. Für eine Stadt der Größe von Toronto ist alles noch sehr entspannt und die Kanadier sind zudem sehr nett, noch viel netter als ihre südlichen Nachbarn, höre ich immer wieder.
DFG: Ja, vor allem in den vergangenen vier Jahren, also während Donald Trump US-Präsident war, galt Kanada als das deutlich sympathischere Amerika. Haben Sie davon in Kanada was mitbekommen?
IE: Als ich hier ankam, hatten die Toronto Raptors wenige Monate zuvor als erste kanadischen Mannschaft überhaupt die nordamerikanische Meisterschaft im Profi-Basketball gewonnen. Nicht das mich das sonderlich interessiert hätte, aber man merkte schon einen gewissen Stolz gegenüber den südlichen Nachbarn. Die Immigrations- und Visapolitik der Trump-Administration hat vermutlich dem internationalen Ruf der USA als Studien- und Forschungsstandort nicht so gutgetan, aber wirklich aufgedrängt hat sich mir das Thema nicht. Man ist wie gesagt sehr nett hier und schweigt eher, wenn es nichts Positives zu vermelden gibt.
DFG: Werden Sie Ihre gesteckten Ziele Ihres Forschungsaufenthalts in Toronto erreichen und wie soll es weitergehen?
IE: Ich denke, ich liege sehr gut im Rennen, trotz Corona-bedingter Rückschläge. Hier hat die DFG sehr rasch und unbürokratisch geholfen, herzlichen Dank auch dafür. Im Herbst werde ich aller Voraussicht nach mein Projekt in Toronto abschließen können und ich werde mich danach in Deutschland um eine Stelle als Forschungsgruppenleiterin bewerben, wahrscheinlich sogar im Emmy Noether-Programm der DFG. Die Arbeit im Labor, also direkt „an der Werkbank“, macht mir zwar weiterhin sehr viel Spaß, doch wächst in mir mittlerweile auch das Bedürfnis, größere Fragenkomplexe zu beantworten und dazu eine Gruppe anzuleiten.
DFG: Wird es dann wieder Stuttgart werden?
IE: Stuttgart ist definitiv eine sehr attraktive Option, aber es gibt da in Deutschland mittlerweile auch eine ausreichende Dichte in der Spitze und wenigstens noch vier, fünf andere Orte, an denen ich meine Arbeit sehr erfolgversprechend fortsetzen könnte. Ein überdurchschnittlicher Frauenanteil und ein hohes Maß an Internationalität ist in dieser Spitze inzwischen selbstverständlich, ob es nun Münster, Duisburg-Essen, Göttingen, Jena oder Ulm ist.
DFG: Der SFB 1333 ist Teil einer Gruppe von vier herausragenden Forschungsverbünden in der Katalyseforschung. Wie weit entfernt von Katalyse sind Sie mit den Lewis-Paaren?
IE: Frustrierte Lewis-Paare werden bereits sehr erfolgreich in der Katalyse eingesetzt, zum Beispiel in der Hydrierung organischer Moleküle. Hier spaltet das frustrierte Lewis-Paar gasförmigen Wasserstoff und übergibt diesen an das organische Molekül unter Bildung eines neuen Produkts. Gleichzeitig wird das frustrierte Lewis-Paar regeneriert und kann somit ein neues Molekül Wasserstoff spalten was wiederum an das nächste organisches Molekül abgegeben wird und so weiter und so fort. Es gibt aber noch unzählige mögliche Anwendungen für frustrierte Lewis-Paare in der Katalyse, die weitgehend unerforscht sind. So interessiere ich mich zum Beispiel in meiner Forschung unter anderem für die Spaltung von Stickstoff-Stickstoff oder Kohlenstoff-Fluor Bindungen.
DFG: Lieben Dank. Noch eine Frage zum Abschluss: Ab wann denken Sie werden die Modelle chemischer Reaktionen und die Fähigkeiten, sie in silico, also auf einem Computer abzubilden, so gut sein, dass das „Kochen“ im Labor weitgehend ersetzt werden kann?
IE: Das wird wohl noch eine Weile dauern. Mit wachsender Größe von Molekülen wächst auch deren Komplexität, leider nicht linear, sondern exponentiell. Das wird dann schnell ein sehr wackeliges Ding mit ganz vielen Variablen. Wir werden sicher noch auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus „kochen“.
DFG: Herzlichen Dank für diese Einschätzung und für Ihre Zeit für das Gespräch. Wir drücken Ihnen die Daumen, dass Sie Ihre Zukunftspläne auch so in die Tat umsetzen können und dass Sie dann Ihre Nudelmaschine für die Maultaschen an den Ort Ihrer Taten mitnehmen können.