(22.06.23) Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert mit dem Forschungsstipendium und seit 2019 mit dem Walter Benjamin-Stipendium die Grundsteinlegung für wissenschaftliche Karrieren durch Finanzierung eines eigenen, unabhängigen Forschungsvorhabens im Ausland und seit 2019 auch in Deutschland. Ein großer Teil dieser Stipendien wird in den USA und zu einem kleineren Teil auch in Kanada wahrgenommen. In einer Reihe von Gesprächen möchten wir Ihnen einen Eindruck von der Bandbreite der DFG-Geförderten vermitteln. In dieser Ausgabe schauen wir, wer sich hinter der Fördernummer PT 67 verbirgt.
DFG: Liebe Frau Dr. Ptatscheck, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit dem Nordamerika-Büro nehmen und uns an Ihrem spannenden Projekt mit Straßenmusikern hier in New York teilhaben lassen. Ich würde allerdings gerne einen etwas größeren Schritt zurück machen wollen. Sie sind in Bielefeld geboren und zum Gymnasium gegangen, obgleich Ihr Nachname eher nach Wien oder Prag klingt. Was machen die Ptatschecks in Bielefeld und wie sah Ihr familiäres Umfeld in der Jugend aus, so kurz bevor Sie Ihr Abitur an der Marienschule der Ursulinen gemacht haben?
Melanie Ptatscheck (MP): Ich bedanke mich herzlich für die Einladung. Das ist übrigens ein interessanter Perspektivenwechsel. Normalerweise bin ich es nämlich, die zum Gespräch einlädt und Fragen stellt als Teil meiner Forschung. Aber zunächst zum Hintergrund der Ptatschecks. Meine Großeltern sind im Zweiten Weltkrieg aus ihrer schlesischen Heimat nach Bielefeld geflohen, wo der Name Ptatscheck noch heute vor allem mit ihrem Bäckereibetrieb in Verbindung gebracht wird. Der Geruch von frisch gebackenem Brot und Brötchen ist mir daher ein sehr vertrauter. Meine Eltern, ein Bäckermeister und eine Konditormeisterin, haben die Tradition fortgesetzt und selbst ein eigenes Geschäft mit Café geleitet, in dem auch ich seit meiner Jugend gearbeitet habe. Selbst während meiner späteren Gastprofessur stand ich noch oft am Wochenende hinter’m Tresen. Ich sag Ihnen, wenn der Milchschaum nicht sitzt, interessiert der akademische Titel nur wenig.
DFG: Der Zugang zu frischen Brötchen, Süßgebäck und perfektem Milchschaum auf dem Cappuccino hat Ihnen während Ihrer Gymnasialzeit an der Marienschule der Ursulinen sicherlich viele Fans eingebracht, oder?
MP: Eher weniger. In der Marienschule waren die Ptatschecks, und damit meine ich meinen älteren Bruder und mich, mehr für unsere musikalischen Aktivitäten bekannt. Der Gedanke, Wissenschaftlerin zu werden, war damals noch sehr weit von mir entfernt. Vielmehr drehte sich alles um die Musik. Vormittags Schule, nachmittags Musikschule – so sah mein Alltag damals aus. Wenn meine Freundinnen und Freunde im Urlaub waren, war ich mit meinen Ensembles in Trainingslagern oder auf Konzertreisen quer durch Europa unterwegs. Ob für Wettbewerbe oder Auftritte – ich bekam in der Schule ständig frei, das war der „Fame“ meiner Jugend. Für mich war damals ganz klar: Ich werde professionelle Konzertgitarristin.
DFG: Sie sind aber keine Musikerin geworden, sondern Wissenschaftlerin. Wo lag denn hier die Weiche?
MP: Die Weiche war meine Psyche. Es lag nie an meinen Fähigkeiten oder der Leidenschaft zur Musik, dass ich keine Berufsmusikerin geworden bin. Hingegen wurde ich vom hohen Erwartungsdruck und der Angst gelenkt, nicht gut genug zu sein. Das ging so weit, dass die Finger nicht mehr machten, was der Kopf wollte, und ich nicht mehr auf eine Bühne gehen konnte. Damals war das in meinem Umfeld überhaupt kein Thema. Wenn du „erfolgreich“ sein willst, musst du funktionieren. Das ist ja in der Wissenschaft oft nicht anders. Dass ich mentale Gesundheit mittlerweile zu meinem Forschungsschwerpunkt gemacht habe, kommt also nicht von ungefähr. Bis dahin brauchte es aber noch einige Umwege.
Nach dem Abitur ging es erst einmal zum Rundfunk. Der neue Plan war: Ich werde Journalistin. Ich begann als freie Mitarbeiterin bei Radio Bielefeld und studierte Populäre Musik und Medien in Paderborn. Während eines Auslandssemesters in Wien merkte ich jedoch, dass ich weniger diejenige sein wollte, die über Menschen auf der Bühne schreibt. Ich wollte viel lieber selbst zurück auf die Bühne. Ich startete einen neuen Anlauf als Jazzbassistin. Ich drückte erneut die Musikschulbank und bereitete mich auf Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen vor. Die feinen Konzertsäle tauschte ich gegen verrauchte Clubs. Die Angst blieb jedoch. Als ich in Wien ein Referat über den Song „Everything in its right place“ der Alternative Rock-Band Radiohead halten sollte, kam ich zum ersten Mal mit dem Thema Musik und psychische Gesundheit in Verbindung. Die künstlerischen Auseinandersetzungen mit Depressionen des Sängers der Band, Thom Yorke, waren der Schlüssel für viele Türen, die ich danach zu öffnen versuchte, persönlich und wissenschaftlich. In meiner eigenen Musik, die ich seitdem schreibe, verarbeite ich viele meiner persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse. Und auch meine Forschungsprojekte haben immer einen persönlichen Bezug.
DFG: In Ihrer Master-Arbeit haben Sie sich mit dem Einfluss von Heroin auf die Musik von Charlie Parker befasst. Welchen persönlichen Bezug haben Sie zu Parker und zu Heroin?
MP: Als Jazzmusikerin lag es für mich nahe, mich mit einer Thematik zu beschäftigen, die auch meine eigene Lebenswelt betrifft. Ich interessierte mich für Musikerinnen- und Musikerbiografien und fand es erstaunlich, wie viele „Größen“ der Popularmusikgeschichte heroinabhängig waren – so auch Parker. Immer wieder wurde mir während meiner späteren Forschungsarbeit die Frage gestellt, ob Heroin denn heutzutage noch ein Thema sei. Ja, ist es. Vielleicht nicht mehr so stark verbreitet wie in Zeiten des Bebops der 1930/40er Jahre oder im Grunge und Alternative-Rock der 1980/90er Jahre. Aber wenn Sie beispielsweise Entwicklungen im US-amerikanischen HipHop verfolgen, dann erleben Sie Künstler, die geradezu mit der Spritze im Arm in ihren Musikvideos flexen, also mit ihrem Konsum prahlen und ihn öffentlich zur Schau stellen. Wir sprechen dann nicht unbedingt von Heroin; momentan sind eher Fentanyl, Oxycodon, Codein oder Tilidin en vogue.
Dennoch gehören alle diese Substanzen zur Gruppe der Opioide, die ursprünglich als Medikamente zur Betäubung und Schmerzlinderung eingesetzt wurden, aktuell jedoch ihre Hochkonjunktur als illegale Rauschmittel erfahren. Und das ist nicht ausschließlich ein US-amerikanisches Phänomen. Der Deutschrapper Capital Bra hat 2019 einen Song, in dem es um Drogenmissbrauch geht, ganz offensichtlich unter dem Titel „Tilidin“ veröffentlicht. Es gibt sogar Berichte dazu, dass im Entstehungszeitraum des Songs ein Anstieg von Tilidin-Verschreibungen von rund 50 Prozent in der Altersgruppe von 15 bis 20-Jährigen in Deutschland zu verzeichnen gewesen sei. Dass es hier einen tatsächlichen Zusammenhang gibt, ist nicht bewiesen; für mich umso mehr ein Grund, Drogenkonsum in populärer Musik gesellschaftskritisch zu betrachten und Forschung in diesem Bereich zu betreiben, um Aufklärungsarbeit zu leisten.
DFG: Es ist ja häufiger auch über Einfluss von Rauschmitteln auf Musikproduktion spekuliert worden, in der „klassischen“ Musik aber eher über „leichtere“ Drogen wie zum Beispiel Alkohol. Lassen sich solche Einflüsse überhaupt festmachen?
MP: Im Bereich populärer Musik ist insbesondere der Einfluss von Rauschmitteln auf Kreativprozesse ein Thema. Es gibt hier zum Beispiel interessante Arbeiten zum Einfluss von Psychedelika auf die Musik der Beatles oder in welcher Form Jim Morrisons Kreativität mit seinem exzessiven Alkohol- und Drogenkonsum in Verbindung stand. Ich würde Alkohol grundsätzlich nicht als „leichtere“ Droge bezeichnen. Alkoholismus ist nach wie vor ein gesellschaftliches Problem, das unter anderem dadurch entsteht, dass Alkohol als „harmlose“ Lifestyledroge verkauft wird, was deren Schädigungspotential unterschätzt. Die Negativfolgen des Konsums lassen sich auch im Musikbusiness an Beispielen wie Amy Winehouse deutlich erkennen.
Im Bereich „klassischer Musik“ ist der Konsum von Medikamenten und Rauschmitteln wie Alkohol, Betablockern oder Kokain, ob zur vermeintlichen Anregung von Kreativität, gegen Auftrittsängste oder zur Aufrechterhaltung und Steigerung von Leistung, ein ebenso verbreitetes Phänomen, das vermutlich auch wegen seiner Tabuisierung und Komplexität bisher jedoch nur wenig erforscht ist. Ihre Frage kann ich daher nicht so pauschal beantworten. Ich betrachte die Verbindung von Musik und Drogen vordergründig aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, die Entstehungsfaktoren von Sucht bzw. psychischen Erkrankungen von Musikerinnen und Musikern im Allgemeinen sowie deren Einfluss auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen fokussiert.
DFG: Ein Promotionsstipendium der Leuphana Universität Lüneburg führte Sie dann nach Los Angeles, wo Sie sich mit dem Zusammenhang zwischen Suchterkrankungen und Selbstkonzepten von Rockmusikern befasst haben. „Selbstkonzept“ klingt deutlich freiwilliger als „Suchterkrankung“. Inwieweit ist der Konsum harter Drogen unter Musikern Teil einer Genre-typischen Folklore, inwieweit Suchterkrankung? Zum zweiten: Ist dieser Zusammenhang auch bei Musikerinnen zu beobachten?
MP: Genau, in LA bin ich dem „Sex, and Drugs, and Rock’n’Roll“-Mythos von Rockmusikern auf den Grund gegangen. Die Entscheidung zum Drogenkonsum ist in der Regel eine freiwillige. Die Frage ist jedoch, inwieweit Menschen, gerade in der Phase ihrer Identitätsbildung, unter bestimmten Bedingungen überhaupt frei entscheiden können oder persönlichen und gesellschaftlichen Prägungen ausgeliefert sind. Der Konsum galt für die Befragten meiner Studie nicht nur als gemeinschaftsstiftendes Ritual, das sie mit Gleichgesinnten praktizierten, sondern im Sinne einer Selbstmedikation auch als willkommene Möglichkeit der Flucht aus Ängsten und Sorgen. Neben traumatischen Kindheitserfahrungen spielen hier auch alltägliche und musikbezogene Problematiken wie Erwartungsdruck, Angstzustände und Selbstzweifel eine Rolle – Sie sehen, auch hier gibt es eine Verbindung zu meiner eigenen Biografie. Gerade Heroin vermag in seiner anfänglichen Rauschwirkung jegliche Art von physischen und psychischen Schmerzen zu betäuben und kann dadurch auch mit einem Gefühl von Freiheit und schöpferischer Kraft einhergehen.
Das ändert sich natürlich, wenn die Rauscherfahrung in ein Suchtverhalten umschlägt, welches das Leben der Konsumierenden negativ bestimmt, kontrolliert oder im schlimmsten Fall sogar beendet. Diese Negativkonsequenzen haben die Befragten jedoch zu Beginn ihrer Suchtkarriere in ihrem Selbstkonzept „Musiker sein“ ausgeblendet oder im Sinne des „Club 27“-Narrativs als romantisches Konzept in dieses integriert.
Grundsätzlich haben Popkultur und ihre konsumierenden Repräsentanten einen entscheidenden Einfluss auf die Normalisierung von Drogenkonsum und eine damit verbundene Nachahmung gesundheitsgefährdender Verhaltensmuster. Der Konsum von Alkohol und Drogen galt in einigen Bereichen populärer Musik geradezu als Teil eines popkulturellen Mythos, aus dem diverse toxische Narrative hervorgegangen sind. Um nochmal auf Charlie Parker zurückzukommen: Obwohl sein Konsum dazu führte, dass er seine Auftrittslizenz verlor und aufgrund der physischen und psychischen Folgen seiner Alkohol- und Heroinabgängigkeit am Ende gar nicht mehr spielfähig war, herrschte noch lange über seinen Tod hinaus die Vorstellung, Parkers musikalische Genialität nur über den Griff zur Nadel erreichen zu können.
Ein ähnliches Bild sehen wir auch bei Kurt Cobain, der nicht etwa wegen seiner chronischen Magenschmerzen, die er nach eigenen Aussagen mit Heroin zu medikamentieren versuchte und die als Auslöser seiner Sucht gedeutet werden können, in die Historie einging. Vielmehr wurde Cobain als tragischer Held stilisiert, dessen Heroinsucht im Zeichen von Depressionen, Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit stand. Und genau dieser Charakter machte auch den typischen Grunge-Sound aus, der sich weltweit millionenfach verkaufte. Drogenkonsum kann neben bestimmten Szeneritualen schließlich auch mit Genreeigenschaften und damit verbundenen Images und Vermarktungspotentialen einhergehen.
DFG: Im Schlager sind Drogen also kein Thema?
MP: Das habe ich damit nicht gesagt. Es gibt beispielsweise Auftritte von Roy Black, bei denen er sich kaum auf seinen Beinen halten konnte. Was manchmal hinter der Bühne los ist, wollen Sie lieber gar nicht erst wissen – und das nicht nur bei den Performern selbst. Ich habe gerade erst eine Studie zur mentalen Gesundheit von Songwritern u.a. im Schlagerbereich durchgeführt und auch da gibt es einige Schattenseiten. Grundsätzlich verkörpert Schlager jedoch ein positives Lebensgefühl, was mit den Bedürfnissen seiner Zielgruppe zusammenhängt. Schlager ist selbst so etwas wie eine Droge mit Fluchtcharakter; ein seichter Moment des Glücks, in dem die Schwere des Alltags vergessen werden kann. Da spielt selbstzerstörerisches Verhalten der Interpretinnen und Interpreten auf der Bühne weniger eine Rolle.
Das ist in der Kunstmusik nicht anders. „Klassische Musik“ wird nicht unbedingt mit Drogenabhängigkeit oder psychischem Leiden in Verbindung gebracht. Wobei sich gerade in diesem hochkulturellen Kontext der Ursprung des Archetypus des „tortured genius“ verorten lässt – das sehen wir nicht erst bei Parker oder Cobain, sondern schon im Heroin- und Geniekult um die „großen Komponisten“ der westlichen Kunstmusik. Bereits Mozart galt als „Popstar“ seiner Zeit, der auch – oder vielleicht auch gerade deswegen – dem Alkohol verfallen war. Interessant ist zudem, dass das Bild des „leidenden Künstlers“ mit der Vorstellung eines männlich konnotierten künstlerischen Selbst einhergeht. Das könnte auch der Grund dafür sein, dass ich für meine Studie in LA ausschließlich männliche Interviewpartner gefunden habe.
Natürlich konsumieren auch Musikerinnen, um auf ihre zweite Frage zurückzukommen. Berühmte Beispiele sind hierfür Courtney Love oder Janis Joplin. Wenn Musikerinnen sich als deviant und psychisch verwundbar zeigen, wird ihnen allerdings ein eher negativ konnotiertes Verhalten zugesprochen, was insbesondere auf Zuschreibungen in medialer Berichterstattung zurückzuführen ist. Über den „Sex, and Drugs, and Rock’n’Roll“-Lifestyle wird hingegen ein männliches Monopol konstruiert; exzessives Verhalten wird hierbei meist als positiv dargestellt und bewundert – so anfänglich auch von meinen Interviewpartnern.
Bis heute haben sich toxische Narrative und Glaubenssätze, die mit einer vermeintlich erfolgreichen Karriere als Künstlerin oder als Künstler einhergehen, verfestigt und werden immer wieder neu (re-)produziert. In einer weiteren Studie, die ich im letzten Jahr zur mentalen Gesundheit von Popmusikstudierenden durchgeführt habe, gab mir ein 19-jähriger Singer-Songwriter, der von exzessivem Drogenkonsum, selbstverletzendem Verhalten und Suizidgedanken sprach, zu verstehen, dass dies Teil seines Künstlerimages sei und seiner Vorstellung nach zum Musikerdasein dazugehöre.
DFG: Aber das tut es nicht? Ist der Archetypus des „tortured genius“ also nur ein Mythos und „Kreativität“ und „Wahnsinn“ stehen nicht miteinander in Verbindung?
MP: Es ist vor allem ein gefährlicher Trugschluss, der einigen Künstlerinnen und Künstlern das Leben gekostet hat. Musikerinnen und Musiker sind nicht per se Psychos, hat die Psychologin Anne Löhr mal in einem Interview gesagt. Psychische Erkrankungen, wozu auch Alkohol- und Drogenabhängigkeit zählen, können zwar imagebildend und Antrieb für Kreativprozesse von Künstlerinnen und Künstlern sein, zudem sind sie oftmals aber auch das Resultat ihrer Arbeitsbedingungen und Lebensumstände. Kreativschaffende Person sind sehr vielen Faktoren ausgesetzt, die dafür sorgen, dass sie psychisch belastet sind. Burnout, Ängste und Depressionen sind Themen, die einfach mit dem Business einhergehen. Als Risiko- und Stressfaktoren gelten unter anderem prekäre Beschäftigungsbedingungen, unregelmäßige Arbeitszeiten, finanzielle Unsicherheit, Mangel an Anerkennung, schlechte Planbarkeit, fehlende Work-Life-Balance, sowie Erfolgs- und Konkurrenzdruck. Verlässliche Karriereperspektiven gibt es, ähnlich wie in der Wissenschaft, auch für Musikerinnen und Musiker nicht.
In der Musikbranche erhält das Thema mentale Gesundheit mittlerweile daher immer mehr Aufmerksamkeit, unter anderem durch Institutionalisierungsprozesse wie der Gründung von Stiftungen und Verbänden. Als Pendant zu internationalen Vorbildern wie Help Musicians UK und MusiCares, gibt es zum Beispiel seit 2020 in Deutschland den Mental Health in Music-Verband (MiM), eine zentrale Anlaufstelle für Akteure in der Musikbranche. Auf wissenschaftlicher Ebene, gerade auch im Bereich der Popular Music Studies, herrscht im Kontext von Mental Health jedoch noch einiges an Aufholarbeit. Umso mehr freue ich mich, dass die DFG dieses Desiderat erkennt und meine Forschungsarbeit unterstützt.
DFG: Sie widmen sich derzeit in New York Untersuchungen zu den Lebensumständen von Straßenmusikerinnen und -musikern und den möglicherweise nachhaltigen Auswirkungen der Pandemie auf diese Szene. New York gilt als ein Mekka der Straßenmusik, vor allem auch, weil die städtischen Verkehrsbetriebe die Musik im System der U-Bahn organisieren und fördern. Wird das ein neues Buch von Ihnen?
MP: Ja, das ist zumindest der Plan. Wobei ich bei den Geschichten, die ich manchmal erlebe, besser einen Roman als ein wissenschaftliches Buch schreiben sollte. Aber auch Wissenschaft kann spannend sein. Vom obdachlosen Klavierspieler im Washington Square Park, der nachts auf seinem Grand Piano schläft, einer Breakdance/Akrobaten-Gruppe auf dem Times Square, die ich als „donation girl“ begleite, über die vielen Performenden in den U-Bahnhöfen, von denen ich mittlerweile einige, wie die berühmte „Saw Lady“, zu meinen Freundinnen und Freunden zählen darf – in meiner ethnographischen Arbeit versuche ich das musikalische Leben im urbanen Raum New Yorks über die Perspektiven dieser Menschen zu erforschen.
Sie können sich vorstellen, dass es gar nicht so leicht ist, ein wissenschaftliches Buch zu schreiben, wenn hinter den „Daten“ auch persönliche Schicksale stehen. Was meine Forschung ausmacht, sind jedoch genau die Nähe zu den Menschen und die tiefen Einblicke, die sie mir in ihre Lebensgeschichten geben. Sich nicht nur als die Wissenschaftlerin vorzustellen, sondern auch als Musikerin, die ihre eigene Geschichte mitbringt, eröffnet mir dabei einige Türen. Gerade wenn es um Selbstkonzepte und das Wohlbefinden der Musikerinnen und Musiker geht, gibt es so manche Parallele, die uns als Gesprächspartner näherbringt; die aber auch eine Distanzierung im späteren Auswertungsprozess verlangt und damit immer wieder auch die Reflexion meiner Forscherinnenrolle.
DFG: Bei der Metropolitan Transit Authority (MTA), den New Yorker Verkehrsbetrieben, gibt es für das System der U-Bahnen ein „Music Under New York“ genanntes Programm, das während der Pandemie wohl vollständig zum Erliegen gekommen ist, Was sind da derzeit die besonderen Herausforderungen?
MP: Die Pandemie hat die Straßenmusikszenen nachhaltig geprägt und ihre Spuren hinterlassen. Auch wenn der Untergrund für Musikerinnen und Musiker wieder geöffnet ist, heißt das nicht, dass alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Das fängt bei der Infrastruktur wie öffentliche Toiletten an, die auch noch lange Zeit nach den Lockerungen der Covid-Maßnahmen geschlossen waren, und hört bei einer deutlich erhöhten Gewalt- und Kriminalitätsrate auf. Allein im letzten Jahr gab es neun Morde im U-Bahnsystem. Teilnehmende des MTA Music Programms erhalten besonderen Polizeischutz. Aber auch das schützt nicht sicher vor Übergriffen. Die angespannte Stimmung macht sich auch bei den Passanten bemerkbar. Noch immer sind die U-Bahnen nicht so stark frequentiert wie vor der Pandemie. Viele vermeiden größere Menschenmengen und auch das Trinkgeld sitzt nicht mehr so locker. Man hat sich zudem an kontaktlosen Umgang mit Geld gewöhnt und Menschen bezahlen weniger mit Bargeld. Es gibt zwar mittlerweile digitale Bezahlsysteme und Plattformen wie Venmo oder Patreon, aber das ist für viele Passanten in der Hektik ihres Alltags zu aufwendig.
Umso mehr der Alltag wieder einkehrt, umso größer ist auch die Erleichterung in der Stadt zu spüren. Dass die Plattformen und Bahnsteige endlich wieder zum öffentlichen Konzertsaal werden, bringt auch ein Stück des typischen New York-Feelings zurück. Leute tanzen auf dem Bahnsteig um 4 a.m., singen und haben eine gute Zeit. In Zeiten von Covid-19 wurde der Verlust und der damit verbundene Wert von Musik besonders deutlich. Meine Arbeit knüpft auch an Diskussionen um die positiven Auswirkungen von Live-Musik auf das Wohlbefinden der Musik-Konsumierenden an. „Wir geben den Menschen so viel“, sagte mal einer meiner Interviewten und zeigte mir eine Sammlung von Notizen mit Danksagungen, die ihm fremde Menschen zusteckten. In Zeiten der Pandemie fühlte er sich jedoch übersehen und fragte: „Was kriegen wir zurück? Wer sorgt nun für unser Wohlbefinden?“. In dieser Systemkritik steckt ein nicht neues Paradoxon. Viele kulturelle Güter, wie Straßenmusik, sind zum kostenlosen Konsum verfügbar. Die Künstlerinnen und Künstler, deren Arbeit konsumiert wird, werden jedoch oft nicht ausreichend unterstützt, um ihre Grundbedürfnisse abdecken zu können. Es gab auch in New York während der Pandemie finanzielle Unterstützungsangebote für Künstlerinnen und Künstler.
Plötzlich nicht mehr auftreten zu können, kann jedoch nicht nur mit finanziellen Sorgen einhergehen. Einige der Straßenmusikerinnen und -musiker haben sich auch in einer Identitätskrise befunden. Wenn ich als Musikerin oder Musiker keine Musik mehr machen kann, wer bin ich dann überhaupt? Auch hier kommen wieder die Selbstkonzepte ins Spiel. Das Selbstkonzept und die Identität einer Musikerin oder eines Musikers haben sich oft über Jahre und sogar Jahrzehnte hinweg durch emotionale und finanzielle Investitionen herausgebildet. Die Beziehung, die sie zum Musikmachen haben bzw. die Rolle, die sie hierbei einnehmen, ist für die meisten Musikerinnen und Musiker nicht so einfach loszulassen.
Dennoch haben viele versucht neue Wege zu finden, ihre Musik aufzuführen. Es gibt auch einige, die nicht in den New Yorker Untergrund zurückgekehrt sind. Auch hier versuche ich herauszufinden, wie der Weg dieser Menschen weitergegangen ist. Leider gibt es auch Personen, die ihren eigenen Weg, und damit meine ich ihr Leben, beendet haben. Zum Glück sind das Einzelfälle, aber dennoch warnende Beispiele, welche die Frage aufwerfen, wie wir in Zukunft mit Kunst und Kultur umgehen wollen und sollten. Künstlerinnen und Künstler erleben in New York eine hohe Fluktuation und damit eine hohe Austauschbarkeit. Getreu dem Motto Frank Sinatras „If I can make it there, I‘ll make it anywhere“ versuchen unzählige Künstlerinnen und Künstler hier den Durchbruch zu schaffen.
Umso mehr ist es mein Anliegen, mich intensiver mit individuellen Einzelfällen und ihren Lebenswegen zu beschäftigen. Im Juni wird es nach drei Jahren Pause auch endlich wieder eine MTA Music Audition geben, für die sich Musikerinnen und Musiker bewerben konnten. Ich darf hinter den Kulissen dabei sein. Es wurden sogar einige mir bekannte Gesichter eingeladen, die ich bereits als Freelance-Performer in den U-Bahnhöfen kennenlernen durfte. Da fällt es ein wenig schwer, neutral zu bleiben, wem man die Daumen für die Aufnahme ins Programm drückt. Zum Glück ist für die Auswahl eine Jury verantwortlich, die entscheidet, welche neuen Mitglieder zukünftig im Rahmen des MTA Music Programms an den Hotspots im New Yorker Untergrund spielen können. Ich bin sehr gespannt, wie und mit welchen Motivationen diese Menschen den Untergrund dann zum Klingen bringen werden.
DFG: Wie wird es denn bei Ihnen weitergehen, was sind Ihre Pläne für die nähere Zukunft und die kommenden fünf Jahre?
MP: Keinen Plan zu haben, ist oft der beste Plan. Das habe ich hier in New York gelernt. Man sagt der Stadt zurecht nach, dass sie nie schläft. Kein Tag ist hier wie der andere und oft passieren unvorhersehbare Dinge. Das bedeutet für meine Feldforschung, möglichst offen zu sein und Gelegenheiten der Begegnung zu nutzen, wenn sie sich auftun. Gleichzeitig muss ich aber auch gut planen, wenn es zum Beispiel um das Publizieren meiner Ergebnisse oder die Teilnahme an Konferenzen geht. Allein in diesem Jahr werde ich für Vorträge in den USA, Kanada, Deutschland, Österreich und Großbritannien unterwegs sein. Ein Tourleben gibt es also auch in der Wissenschaft.
Die langfristige Planung bleibt jedoch nicht ganz aus. Ich arbeite schon jetzt am Antrag eines Folgeprojektes. Es ist ein großes Privileg, Stipendiatin im Walter Benjamin Programm zu sein. Dass ich nicht nur als Person, sondern insbesondere auch in meinen wissenschaftlichen Vorhaben und Themen gefördert werde, motiviert mich sehr, den weiteren Weg auch mit der DFG weitergehen zu wollen. Ich sehe meine Zukunft als Forscherin im Bereich der Health Humanities, die ich gerne für die Popular Music Studies vertreten möchte. Ich will noch nicht zu viel verraten, aber es soll dabei um die Erforschung von Gesundheitsnarrativen in populärer Musik gehen. Ich plane hierzu eine Emmy Noether Nachwuchsgruppe, in der ich auch andere junge Forschende in der Qualifizierungsphase begleiten möchte. Ich habe mit meiner Kollegin Monika Schoop vorletztes Jahr das Netzwerk Early Career Women* in Popular Music gegründet. Mir liegt also auch besonderes die Förderung von Frauen in der Wissenschaft am Herzen.
Apropos Herz. Vielleicht wird es am Ende auch der ursprüngliche Plan A und Sie finden mich selbst wieder auf den Bühnen dieser Welt. In meiner Freizeit schreibe ich immer wieder mal am Welthit. Interessant ist jedenfalls, dass ich viele der institutionellen Bühnen, die ich als Musikerin nicht bespielen konnte, nun von einer anderen Perspektive einnehme. So habe ich zum Beispiel an der Popakademie Baden-Württemberg geforscht und war dort als Dozentin tätig. An der Hochschule für Musik und Tanz Köln habe ich mittlerweile sogar eine Gastprofessur erhalten. Manchmal muss man eben Umwege gehen.
DFG: Sie sind mittlerweile in vielen Städten zu Hause oder wenigstens fast zu Hause gewesen. Was gibt es da für bleibende Eindrücke, an was erinnern Sie sich weniger gerne?
MP: Nach dem Abitur wollte ich möglichst weit weg aus Bielefeld und bin zunächst in der Weltmetropole Paderborn gelandet. Bis es über den großen Teich ging, brauchte es ein paar Anläufe. So habe ich u.a. mal eine Zeit lang in Wien gelebt, wo sich der Bassistinnen-Plan, mein damaliges Faible für den Wiener Dialekt und zwei Auslandsemester in Musikwissenschaft kreuzten. Los Angeles war dann so etwas wie ein wissenschaftlicher und persönlicher Selbstfindungstrip. Verlaufen gehörte auf meinen Weg natürlich auch dazu, wobei die Exkurse meine wissenschaftliche Vita durchaus positiv prägen.
Wie gesagt, das mit dem Milchschaum am Wochenende kann auch ganz entspannend für den Kopf sein. Und dass ich zwischendurch noch ein zweites berufsbegleitendes Masterstudium in Gesundheitswissenschaften absolviert habe, würde ich nicht als Planlosigkeit auslegen, sondern als gelebte Form von Inter- und Transdisziplinarität und nicht zuletzt auch als „strategische“ Karriereplanung. Denn schließlich hat mich meine Route durch die Unterstützung der DFG hier her nach New York geführt – und dafür bin ich mehr als stolz und dankbar. New York ist zu meinem aktuellen Zuhause geworden. Der Gedanke, irgendwann in meine Heimatstadt zurück zu kehren, ist bei diesem „Bohemian Lifestyle“, wie es meine Großtante einst formulierte, sicherlich erst einmal abwegig. Aber auch das habe ich gelernt: Never say never.
DFG: Wenn Sie aber nun die wissenschaftliche Karriere wieder in die Provinz verschlagen wollen würde, also weit weg von den Orten eines „Bohemian Lifestyles“, wie würden Sie diesen Zielkonflikt lösen wollen?
MP: Wenn es sich für mich passend anfühlen würde, wäre es kein Konflikt mehr. Ich kann mir durchaus vorstellen, die Weltmetropolen irgendwann einmal gegen eine Blockhütte an einem Fjord in Schweden einzutauschen. Wichtig ist für mich jedoch, dass ich diese Entscheidung selbst treffe. Selbstbestimmtheit ist auch für meinen akademischen Weg eine meiner obersten Prämissen – obgleich auch ein großes Privileg. Wissenschaft steht nicht gerade für Sicherheiten und viele Auswahlmöglichkeiten, insbesondere was das Stellenangebot angeht. Dass ich hier mit Ihnen spreche, zeigt aber auch, wo ein Wille ist, ist ein Weg. Mein Antrieb war neben meiner Sturheit und Neugierde vor allem immer die Leidenschaft für die Themen, die mich persönlich bewegen und die mir ein Gefühl von Sinnhaftigkeit vermitteln.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Doktorvater zum Anfang meiner Promotion, als ich von meinen wilden Forschungsplänen in Los Angeles schwärmte, sagte: „Wissenschaft, das hat nichts mit Leidenschaft zu tun.“ Ich habe viel von ihm gelernt, aber in dieser Hinsicht habe ich ihn wohl eines Besseren belehrt. Wir sind mittlerweile gute Freunde. Aber hinter jeder Nachricht, die ich ihm „mit lieben Grüßen aus Manhattan“ schicke, steckt immer auch ein kleines Grinsen. Und wer weiß, vielleicht verschicke ich als emeritierte Professorin irgendwann einmal Grüße aus meinem eigenen Café in Bielefeld, wo ich mit voller Leidenschaft perfekten Milchschaum kreiere.
DFG: Lieben Dank für den Ausblick auf einen perfekten Milchschaum in einem Café in Bielefeld als eine Art alternativem Karriereweg. Wir hoffen allerdings, dass es vorher noch mit dem Plan A klappen wird, also mit der Aufnahme in das Emmy Noether Programm oder einer vergleichbaren Forschungsgruppenleitungsstelle. Wir freuen uns auf Ihre kommende Publikation zur Straßenmusik in New York City und wünschen Ihnen für Ihre berufliche und private Zukunft alles Gute.