(14.09.23) Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert mit dem Forschungsstipendium und seit 2019 mit dem Walter Benjamin-Stipendium die Grundsteinlegung für wissenschaftliche Karrieren durch Finanzierung eines eigenen, unabhängigen Forschungsvorhabens im Ausland und seit 2019 auch in Deutschland. Ein großer Teil dieser Stipendien wird in den USA und zum Teil auch in Kanada wahrgenommen, Ausdruck einer in vielen Disziplinen und in besonderem Maße in den Lebenswissenschaften herrschenden Überzeugung, dass es hilfreich für die Karriere sei, „in Amerika gewesen“ zu sein. In einer Reihe von Gesprächen möchten wir einen Eindruck von der Bandbreite der DFG-Geförderten vermitteln. In dieser Ausgabe schauen wir, wer sich hinter der Fördernummer DI 2907 verbirgt.
DFG: Liebe Frau Dr. Dinges, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit zu einem Gespräch mit dem Nordamerika-Büro der DFG nehmen. Lassen Sie uns gleich mit der Tür ins Haus fallen, nämlich mit den ersten Ergebnissen einer kurzen Internetrecherche Ihres Namens. Man stößt da schnell auf ein Video mit einer Eishockeyspielerin der Kölner Haie. Was hat es damit auf sich?
Gesa Dinges (GS): Ich wünsche mir zwar langfristig, dass mein „claim of fame“ als Eishockeyspielerin gegenüber einem angestrebten Ruf als Forscherin verblasst, doch noch finden Sie mich bei Google in der Tat sehr viel häufiger im Trikot als im Laborkittel. Mit Hilfe des Walter Benjamin-Stipendiums der DFG arbeite ich derzeit an mehreren Projekten, die bestimmt meine Google-hits verändern, und ich möchte mich an dieser Stelle herzlich für die Unterstützung bedanken.
Mit Eishockey-Stick und Puck werden Menschen in Deutschland weniger häufig geboren als zum Beispiel in Kanada und da liegt auch schon das Geheimnis verborgen. Nicht, dass ich gebürtige Kanadierin wäre, aber ich habe prägende Jahre meiner Kindheit und Jugend zunächst in Ontario, Kanada und danach im Norden von Pittsburgh verbracht. Ein knappes Jahr nach meiner Einschulung sind wir mit der Familie, also meinen Eltern und meinen beiden Brüdern, nach Brights Grove in Ontario gezogen, wohin sich mein Vater als Chemie-Ingenieur hatte versetzen lassen. Damit wir gleich richtig eintauchen, haben uns unsere Eltern auf die öffentliche Schule geschickt und dort war Eishockey gang und gäbe.
DFG: Aber für junge Mädchen kann man sich doch auch andere Betätigungen auf der Eisfläche vorstellen, Eiskunstlauf zum Beispiel.
GS: Ja, das gab es auch, jedenfalls für eine kurze Zeit. Leider muss man da auch entsprechend eingekleidet sein und anders als beim Eishockey können Sie die Kostümierungen nicht im Laden kaufen, sondern es muss in Heimarbeit genäht werden. Meine Eltern haben sich angesichts der störrischen Tüll-Stoffe gefreut, als ich mich zu sehr langweilte und mit meinen Brüdern Eishockey zu spielen begann, und mich da auch einigermaßen behaupten konnte.
DFG: Nur einigermaßen behaupten?
GS: Na ja, die Leistungsdichte bei den Frauen in Deutschland ist im Eishockey noch nicht so groß wie bei den Männern. Sie sollten also die folgenden Angaben entsprechend einsortieren. Gegen Leon Draisaitl, der mittlerweile schon zum wertvollsten Spieler der nordamerikanischen Profiliga ausgezeichnet wurde, habe ich in der Schülerbundesliga schon auf dem Eis gestanden, leider auf der gegnerischen Seite. Als Mitglied der U-18 Frauennationalmannschaft sind wir immerhin bei der Weltmeisterschaft 2010 in Chicago auf dem vierten Platz gelandet und mit den Kölner Haien und Bergkamener Bärinnen spielten wir in der ersten Bundesliga.
DFG: Aber Profisportlerin wollten Sie nicht werden?
GS: Doch, wenn die Aussichten auf Erfolg besser gewesen wären und wenn Erfolg dann auch bedeutet hätte, von einer Karriere auch leben zu können, also wirklich Profi zu sein, dann wäre es vermutlich für mich eine schwierigere Entscheidung geworden. Die Verlässlichkeit von Karriereperspektiven hinkt im Fraueneishockey doch noch ein wenig hinter der von Frauen in der Wissenschaft hinterher. Aber verstehen Sie mich hier bitte nicht falsch. Mir geht es gar nicht in erster Linie um Sicherheit, sondern erst einmal um eine nüchterne Einschätzung, wo meine Leistungs- und Leidensbereitschaft die größeren Früchte abzuwerfen verspricht. Reines Zuckerschlecken ist ja weder das eine noch das andere und riesigen Spaß bereitet mir derzeit noch beides.
DFG: Wie haben Sie denn Ihre neben Eishockey zweite Leidenschaft entdeckt?
GS: Nach dem Abitur wusste ich erst einmal nicht, in welche Richtung es bei mir akademisch weitergehen sollte, und in Eishockey wollte ich mich auch nicht vollständig investieren. Meinen Eltern lag daran, dass ich diese Überlegensphase möglichst tätig verbringen sollte und so machte ich 2012 ein Praktikum bei einem Chemieunternehmen in Schanghai. Das war dann schon ein Kulturschock, vor allem, weil ich Naive dachte, es sei nur Ausland und ich war ja sehr gut in Kanada und den USA klargekommen. Ich könnte Ihnen einige Geschichten zum Thema „lost in translation“ erzählen, und ein Winter im feuchtkalten Klima von Shanghai fühlt sich auch anders an, als man sich das gemeinhin vorstellt. In diesem Klima ist aber immerhin meine Entscheidung für Biologie gereift und von da an ging es ja ziemlich gradlinig über klinische und experimentelle Neurowissenschaften bis zu meiner Promotion an der Schnittstelle zwischen Zoologie und Neurobiologie.
DFG: Sie sind mit Ihrem Forschungsprojekt derzeit im Neuro-Mechanical Intelligence Laboratory (NeuroMINT) bei Professor Nicholas Szczecinski. Warum dort und woran arbeiten Sie?
GS: Meine Doktorarbeit in der Arbeitsgruppe von Professor Ansgar Büschges untersuchte sogenannte „campaniforme Sensillen“. Man kann sie sich als Belastungssensoren in den Außenskeletten von Insekten vorstellen, Belastungssensoren, die zum Beispiel in den Beinen von Taufliegen (Drosophila melanogaster) eine wichtige Rolle bei der Fähigkeit der Insekten spielen, herumzustehen oder Schritte zu machen. Ganz grob gesprochen lässt sich Bewegung in so einem Fliegenbeinchen und insgesamt in der Biologie als ein Wechselspiel zwischen Sensoren, in unserem Fall Sensillen, und Aktuatoren, also zum Beispiel Muskeln, beschreiben. Alles dazwischen fassen wir mal als „Neuro“ zusammen. Der Name des Labors von Professor Szczecinski, Neuro-Mechanical Intelligence Laboratory, lässt unschwer erkennen, woran wir da arbeiten, nämlich an einem Verständnis des Zusammenspiels neuronaler, sensorischer und mechanischer Vorgänge, die hinter der banal scheinenden Fähigkeit des Laufens oder sogar nur Stehens in der Biologie stecken. Wenn Sie das mit den uns heute zur Verfügung stehenden Mitteln nachbauen wollen, merken Sie schnell, wie kompliziert das werden kann. Darum erlauben uns auch die Robotiker*innen, unseren Untersuchungsgegenstand mit „Intelligenz“ zu bezeichnen. Dieser Fachcommunity werden dann hoffentlich die Ergebnisse meiner derzeitigen Forschungsarbeit helfen, die von einer dreidimensionalen Instrumentierung biomimetischer Belastungssensoren in laufenden Robotern handelt. Wir skalieren dabei grob gesprochen die Erkenntnisse zu den Funktionszusammenhängen im Bein der Drosophila und der Stabheuschrecke auf technisch brauchbarere Größen hoch, auf den Drosophibot.
DFG: Warum aber in West Virginia?
GS: Weil dort Professor Szczecinski sein Labor aufgebaut hat, nachdem er als Postdoc in der Gruppe von Professor Büschges an der Universität zu Köln entsprechend einschlägig gearbeitet und an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio ein Biologically Inspired Robotics Laboratory gegründet hat. Mit diesem noch jungen Lab ist er vor drei Jahren an die West Virginia University umgezogen und ist mit der Büschges-Gruppe noch über das internationale Programm „Next Generation Networks for Neuroscience“ (NeuroNex) verbunden. Für meine Fragestellung, die entlang des Modellorganismus Drosophila und Stabheuschrecke forscht, bietet sein Labor ein optimales Arbeitsumfeld und dafür gehe ich auch an Orte, die in USA-Reiseführern nicht so ausführlich beschrieben sind.
DFG: Wie würden Sie denn Morgantown, West Virginia beschreiben?
GS: Mit gemischten Gefühlen, denn auf der einen Seite ist die Stadt mit ihrer Bevölkerung von vielleicht 70.000 als Standort der West Virginia University eine liberale Oase in einem Bundesstaat, der 2020 zu fast 70 % für Trump gestimmt hat. Auf der anderen Seite kann ich einige der Gründe für den Frust in dem State nachvollziehen. Nehmen wir zum Beispiel die Stichworte Strukturwandel und Opioid-Krise. In den späten 1990er Jahren wurde hier das Medikament Oxycontin aggressiv vermarktet und West Virginia wurde zu einem der Epizentren der Opioidkrise in den USA. Jetzt hat zusätzlich der Bergbau stark an Bedeutung verloren, was einher geht mit Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit und den Folgen dieser Epidemie. Ich habe zum Beispiel eine Dosis Narcan im Rucksack. Das ist ein als Nasenspray sehr einfach zu verabreichender Opioid-Antagonist, besetzt also die Rezeptoren für Opioide, macht auf einen Schlag wieder nüchtern und bewahrt so vor den oft tödlichen Folgen einer Opioid-Überdosierung. Ich habe es zwar glücklicherweise noch nie anwenden müssen, doch gibt es mir die Sicherheit, nicht hilflos zu sein, falls es mal hart auf hart kommt.
DFG: Einem Kölner Sprichwort zufolge würden neben Narcan noch das Gesangbuch und die Pistole in die Handtasche gehören. Gehen Sie in West Virginia unbewaffnet auf die Straße?
GS: Ja, auch hier wieder der Hinweis auf den Status von Morgantown als einer eher liberalen Insel inmitten eines gemessen an US-Standards „normal“ Waffen-positiven Bundesstaats. In meinem Umfeld gibt es welche, die eine Schusswaffe kleineren Kalibers als Kind geschenkt bekommen haben, um mit der Familie zur Jagd zu gehen, genauso wie solche, die Waffen jeglicher Art ablehnen. Politisch gesehen verändert sich gerade, dass das Tragen von Schusswaffen auf dem Campus der Hochschule ab nächstem Sommer erlaubt sein wird, und das kann dann natürlich schon ein etwas mulmiges Gefühl erzeugen. Aber unabhängig davon, wie Individuen hier zu Waffen stehen, sind die Menschen hier sehr empathisch und haben mich mit offenen Armen integriert. Ich habe Freundschaften entwickelt, nehme Teil an gesellschaftlichen Ereignissen, spiele in einer Recreational Hockey League und fühle mich gut aufgehoben. Wenngleich Morgantown als Stadt nicht sonderlich schön ist und sehr stark auf die Nutzung von Autos zugeschnitten ist, gibt es schon versteckte Reize wie zum Beispiel Coopers Rock State Forest, generell sehr viel unberührter Wald, und mit seinen Zuflüssen den Monongahela River, der sich nach Pittsburgh schlängelt und sich dort mit dem Allegheny River zum Ohio River vereinigt.
DFG: Was gefällt Ihnen denn besonders an Ihrem derzeitigen Forschungsumfeld?
GS: Die Gruppe ist zum einen sehr interdisziplinär - deckt ingenieurwissenschaftliche Themen ebenso ab wie materialwissenschaftliche und biologische - zum anderen hat sie auch eine vergleichsweise ausgewogene Geschlechterverteilung auf jeder Ebene. Als ich in Bayreuth meinen Bachelor in Biologie machte, waren circa 50 % meiner Mitstudierenden nicht männlich. Im gleichen Jahr waren allerdings auf dem Level der Habilitation nur 10 % der Personen nicht männlich. In den Ingenieurwissenschaften hier in WVU sieht die Situation nicht besser aus, nur 19 % der Bachelorabschlüsse in 2021 waren von nicht-männlichen Personen. Da fehlt es dann an den „non-male role models“, je höher geschaut wird. Jede Person kann zwar Vorbild sein, es hilft aber allen, wenn es ubiquitäre Präsenz und Erfolg gibt. Deshalb finde ich es besonders wertvoll, in Laboren zu arbeiten, die alle Menschen willkommen heißen und in denen jede Person unterstützt wird.
DFG: Was sind denn Ihre role models?
GS: Wenn ich außerwissenschaftlich antworten dürfte, würde ich derzeit spontan Courtney Dauwalter nennen, eine Ausdauersportlerin, die sich in ziemlichen Extremen bewegt. Allein dieses Jahr gewann sie den Hardrock 100 und den Western States. Beides sind Rennen über 100 Meilen, also circa 160 km, die auf ihrem Niveau lediglich um die 26 Stunden dauern. So etwas beeindruckt mich, weil es von individueller Ausdauer zeugt, von persönlichem Ehrgeiz. In der Forschung geht es darüber hinaus neben der Fähigkeit, wissenschaftsrelevante Fragestellungen zu entwickeln, stark auch um die Organisation größerer Teams, also um die Orchestrierung von Talent, damit ein sehr gutes, den Bedingungen entsprechend optimales Team-Ergebnis entstehen kann. Leistungssport jeglicher Art bereitet einen gut darauf vor. Des Weiteren habe ich in meinen beiden bisherigen Forschungsgruppenleitern schon sehr gute Vorbilder.
DFG: Wie wird es mit Ihrer Karriere weitergehen?
GS: Mein Planungshorizont erstreckt sich derzeit erst einmal bis Mai kommenden Jahres. Dann werde ich mit meinem Forschungsprojekt hier fertig sein und hoffentlich gut publiziert haben. Danach schauen wir mal weiter. Ob es mich mittelfristig auf eine akademische Forschungsgruppenleitungsstelle zieht oder eher in die Industrie oder vielleicht auch in eine ganz andere Richtung, kann ich jetzt noch nicht sagen. Von meiner Grundeinstellung her bin ich aber optimistisch bis sehr optimistisch und ich scheu mich nicht vor neuen Herausforderungen. Et kütt wie et kütt.
DFG: Lassen Sie uns zum Abschluss noch einmal auf Eishockey zu sprechen kommen: Wie ließe sich dieser Mannschaftssport über den von Ihnen erwähnten Aspekt der für den Erfolg notwendigen Orchestrierung von Talent hinaus noch mit der Wissenschaft vergleichen?
GS: Ich glaube, dass Mannschaftssportarten dem Laborleben generell sehr ähnlich sind. Umso besser wir im Labor zusammenarbeiten, umso kritischer wir miteinander diskutieren können, und umso besser wir uns gegenseitig unterstützen, desto besser wird die Forschung. Klar, es gibt auch die eigene Leistung und die persönliche Konkurrenz, genauso wie im Sport auch, aber zusammenarbeiten bringt für das Forschungsgefüge und die Forschenden langfristig mehr Erfolg. Ähnlich wie das Motiv des Strebens von Universitäten nach mehr Geschlechtervielfalt, gibt es auch im Leistungssport in Deutschland entsprechende Defizite. Im Eishockey gibt es für Frauen und Männer, abgesehen von riesigen Unterschieden in der Bezahlung, verschiedene Regelwerke. Es ist zum Beispiel den Frauen lange nicht so viel Körperlichkeit erlaubt wie den Männern. Das ist dann schon spieltechnisch und taktisch ein anderer Sport und eigentlich nur Ausdruck der in meinen Augen falschen Vermutung, dass Frauen geschützt werden müssten. Nicht, dass Frauen-Eishockey weniger spannend ist oder ohne den Check auskommt, aber es sollte meiner Ansicht nach keine übergeordneten geschlechtsspezifischen Entscheidungen geben. Besonders nicht, wenn es heute genügend Forschung zur chronisch-traumatischen Enzephalopathie gibt, die eigentlich eine allgemeine Veränderung von Kontaktsportarten herbeiführen sollte. Aber ja, zurück zum Punkt, Leistungssport und erfolgreiches Forschen haben viele Parallelen und passen gut zusammen. Ich glaube, meine Resilienz und mein Ehrgeiz sind geprägt durch den Sport und haben meine wissenschaftliche Karriere gestärkt.
DFG: Beides scheint auch gleichermaßen von Wettbewerb zu profitieren. Herzlichen Dank für die Einschätzung und das einsichtsreiche Gespräch. Wir drücken die Daumen, dass Sie Ihre wissenschaftliche Karriere gleichermaßen erfolgreich fortsetzen können wie Ihre Karriere mit den Kölner Haien, und dass die Vorzüge West Virginias gegenüber möglichen Nachteilen dominanter bleiben.