Die Gründung der Notgemeinschaft und ihre weitere Tätigkeit wären ohne die Unterstützung des Reichstages nicht möglich gewesen.
Das Reich stellte den überwiegenden Teil des Etats der Notgemeinschaft, nur vergleichsweise geringe Geldmittel kamen vom Stifterverband der deutschen Wissenschaft oder aus privaten Spenden. Die Mittel für die Notgemeinschaft stellte der Haushalt des Reichsministeriums des Innern (RMdI) bereit, der wiederum als Teil des Reichsetats jährlich vom Reichstag bewilligt werden musste. Das RMdI veranlasste daher, dass der Präsident der Notgemeinschaft Friedrich Schmidt-Ott regelmäßig an den Sitzungen des Haushaltsausschusses des Reichstags teilnehmen konnte, in denen über den Etat des RMdI beraten wurde.
Der Reichstag zeigte großes Interesse an Fragen der Wissenschaft und Forschung. Detailliert beschrieben die Redner in den Plenarsitzungen die beklagenswerten Zustände einzelner Forschungsinstitutionen und Universitäten. Über die Parteigrenzen hinweg unterstrichen die Abgeordneten die Notwendigkeit einer größeren finanziellen Unterstützung von Seiten des Reiches für einzelne Wissenschaftsinstitutionen, insbesondere der Notgemeinschaft. Darüber hinaus wurden auch allgemeine Aspekte der Wissenschaft – Förderung des Nachwuchses, Wissenschaft als Diplomatie, Bedeutung der Grundlagenforschung – erörtert.
Einen Einblick in die Reden der Plenarsitzungen des Deutschen Reichstags ermöglichen die von der Bayerischen Staatsbibliothek herausgegebenen digitalisierten Reichstagsprotokolle. Dieses Projekt förderte die DFG im Rahmen des Programms „Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen“ von 1997 bis 2009. (Siehe: https://www.reichstagsprotokolle.d)
Die Notgemeinschaft hatte besonders in dem Parlamentsabgeordneten Georg Schreiber (Zentrumspartei), Kirchenhistoriker und Sprecher des Reichstagausschusses für den Reichshaushalt, ihren wichtigsten Fürsprecher. Schreiber, als auch die Abgeordneten Otto Hoetzsch (Deutsch-Nationale Volkspartei) und Prof. Radbruch (Sozialdemokratische Partei), wurden Parlamentarische Mitglieder des Hauptausschusses der Notgemeinschaft. Nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich Schreiber als Rektor der Universität Münster für die Wiedererrichtung der Notgemeinschaft ein. (LINK zu Kapitel „Von der Bonner Notgemeinschaft zur DFG“) Die Notgemeinschaft hob in ihrem Jahresbericht 1929/1930 den Einsatz der drei Parlamentarier hervor, „die neben ihrer starken parlamentarischen Belastung jederzeit an der Arbeit der Notgemeinschaft unmittelbaren Anteil nahmen und das Interesse des Reichstags wachhielten und eine Basis gegenseitigen Vertrauens schufen.“
Mit einem Parlamentarischen Abend im Plenarsaal des Reichstages am 23. November 1920 auf Einladung von Reichsinnenminister Erich Koch-Weser machte die Notgemeinschaft den Reichstag und die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam, denn immerhin verliehen Reichspräsident Ebert, Reichskanzler Fehrenbach, mehrere Reichsminister und weitere prominente Vertreter aus Politik und Wirtschaft der Veranstaltung besonderes Gewicht.
Mit den Beratungen des Reichsetats für das Jahr 1920, der erst im Sommer 1921 verabschiedet wurde , begann sich der Reichstag näher mit der Notgemeinschaft zu befassen. Dabei erfuhr die junge Organisation Zuspruch aus allen Parteien. In der Plenarverhandlung am 24. Januar 1921 erschien der Abgeordneten Klara Zetkin (Kommunistische Partei Deutschlands) der zu verhandelnde Etat der Notgemeinschaft zu niedrig, und sie bedauerte, dass „die Notgemeinschaft mit dem Bettelsack herumgehen“ müsse.
Die Jahre 1922 und 1923 waren geprägt von der Inflation und der Niedergang aller wissenschaftlichen Tätigkeit war nicht aufzuhalten. In den Verhandlungen am 15. und 16. November 1922 befasste sich der Reichstag ausführlich mit der „Not der Wissenschaft“ aufgrund einer von der Zentrumsfraktion eingereichten Anfrage, einer „Interpellation“. In dieser zweitägigen Aussprache wurde eine große Bandbreite von wissenschaftspolitischen Themen erörtert und eine positive Bilanz der Tätigkeit der jungen Notgemeinschaft gezogen.
Im Jahr der Inflation 1923 hielt der Reichstag weiter zur Notgemeinschaft und hob ihren Etat in gleich mehreren Nachtragshaushalten an. Auf der Plenarsitzung am 14. August 1923 wurde der von den Abgeordneten Schreiber, Otto Hoetzsch (DNVP) und weiteren Abgeordneten gestellte Antrag auf eine Erhöhung des Etats der Notgemeinschaft von 4,4 Milliarden Mark auf 900 Milliarden angenommen.
Im Folgenden sind Zitate aus verschiedenen Reichstagsverhandlungen und aus den Reden des Parlamentarischen Abends vom 23. November 1920 wiedergegeben:
Es greift einem ans Herz, wen man heute hört, wie mancher junge und alte Gelehrte nicht mehr in der Lage ist, ein großes Werk, an dem er Jahrzehnte gearbeitet hat, überhaupt nur drucken zu lassen. Es ist mir erzählt worden, daß große Gelehrte Deutschlands ihr vollendetes Werk im Manuskript der Universitätsbibliothek einverleibt haben, da sie nicht mehr in der Lage sind, es im Druck erscheinen zu lassen.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 344, 5. Sitzung, 1. Juli 1921, S. 95)
Die einzelnen Länder haben knapp die Mittel überwiesen, die zur Aufrechterhaltung des universitären Lehrbetriebes notwendig sind. Für den Unterhalt und die Weiterführung der wissenschaftlichen Forschung sind keine Mittel da. Das Forschungsmaterial ist aufgebraucht, die Instrumente sind abgenutzt. Neuanschaffungen sind nicht möglich, weil Materialien und Instrumente kolossal im Preise gestiegen sind. Das Erscheinen wissenschaftlicher Zeitschriften und Bücher ist durch die Wucherpreise der Herstellung in Frage gestellt.
Die Notgemeinschaft hat sich an die Reichsregierung gewandt mit der Bitte um Abhilfe. Sie hat ausgerechnet, daß zur Deckung des allerdringendsten Bedarfes 100 Millionen notwendig sind. Das Reich, das ungefähr 1 ½ Milliarden für Polizeizwecke zur Verfügung hat, will mit Hängen und Würgen 20 Millionen für die Zwecke der Wissenschaft geben. Den Rest soll die Notgemeinschaft sich bei den besitzenden Klassen zusammenbetteln. Es ist eine Schande, daß die Wissenschaft mit dem Bettelsack herumgehen muß.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 347, 55. Sitzung, 24. Januar 1921, S. 2065 f)
Der Herr Reichsfinanzminister hat mir in meinem Etat unter den einmaligen Ausgaben die Summe von 20 Millionen Mark für die Not der Wissenschaft zur Verfügung gestellt, und ich habe sehr begründete Aussicht zu der Hoffnung – mehr darf ich nicht sagen -, daß diese einmalige Ausgabe eine dauernde werden wird.
(Aus: Eine Kundgebung für die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Sonderabdruck in der Zeitschrift „Internationale Monatsschrift für Wissenschaft und Technik“, 1920, 15. Jahrg. 2. S. 99 f)
Wir wissen sehr wohl, was der Genius in der Wissenschaft bedeutet, was die kleine Dachkammer in der Wissenschaft bedeutet. Wir wissen aber auch, daß in der Wissenschaft etwas von dem Reichtum, der Verschwendung der Natur nötig ist. Man muß oft hundert Experimente machen können, um ein Resultat zu bekommen; man muß sie wiederholen können. Weiter: nur aus dem Reichtum eines breiten und fruchtbaren Bodens heraus entwickeln sich Bäume und Pflanzen, weil sie sich nicht an jeder Stelle entwickeln können, sondern nur an einigen; aber der Boden muß da sein. Die Wissenschaft braucht eine gewisse Behäbigkeit, einfach deswegen, weil nicht jeder Stein, den man anschlägt, Funken gibt.
(Aus: Eine Kundgebung für die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Sonderabdruck in der Zeitschrift „Internationale Monatsschrift für Wissenschaft und Technik“, 1920, 15. Jg. 2. S. 104 f)
Reichtum der Erfindung aber erwächst nur aus dem Reichtum um ihrer selbst willen betriebener Wissenschaft. Nichts Unverständigeres gibt es als den Gedanken, die Leistung dadurch zu steigern, daß man die wissenschaftliche Forschung auf das beschränkt, was unmittelbar praktisches Resultat verspricht. (…) Jede Sicherheit erfinderischen Erfolges aber erwächst nur auf dem Boden mühevoller systematischer Arbeit, die allein auf die Aufklärung der wissenschaftlichen Grundlagen gerichtet ist.
(Aus: Eine Kundgebung für die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Sonderabdruck in der Zeitschrift „Internationale Monatsschrift für Wissenschaft und Technik“, 1920, 15. Jg. 2. S. 114)
Auch in diesem Kriege hatten wir mit allen diesen Seuchen zu kämpfen und mit manchen neuen, aber wir sind mit ihnen in der Hauptsache fertig geworden. (…) So war erkannt worden, daß das Fleckfieber durch Kleiderläuse (…) verbreitet wird. (…) Das deutsche Volk im Inlande ist so weit davon verschont geblieben, daß weniger als 150 Leute dieser Seuche zum Opfer gefallen sind. Allerdings als dann diese von der Wissenschaft geschaffenen Maßnahmen während der politischen Unruhen nicht mehr mit der nötigen Strenge gehandhabt wurden, ist im Inlande die Fleckfieberepidemie gleich auf tausend und mehr in die Höhe gegangen.
(Aus: Eine Kundgebung für die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Sonderabdruck in der Zeitschrift „Internationale Monatsschrift für Wissenschaft und Technik“, 15. Jg. 2. S. 116 f)
An dieser Stelle muss ich es aussprechen, daß die deutsche Wissenschaft in den Tagen ihres Niederganges nach der organisatorischen Seite eigentlich ihre stärkste Leistung gesetzt hat, indem sie im Sinne einer großzügigen, umfassenden, bedeutenden Notorganisation die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft geschaffen hat. (…)
Wohl wußten wir, daß die deutschen Professoren nach der wissenschaftlichen Seite hoch qualifiziert sind, aber nach der Seite der Organisation in der organisationsgewaltigen Gegenwart noch manches zu lernen haben. Aber wir haben doch gefunden, daß die Not der Zeit in dem wissenschaftlichen deutschen Genius auch hier Organisationsformen entwickelt hat, die zu dem Besten gehören, was deutsche Wissenschaft organisatorisch überhaupt schuf.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 357, 267. Sitzung, 15. November 1922, S. 8994)
Und auch die innere Konstruktion der Notgemeinschaft und ihre Arbeitsweise ergab sich sehr bald. Man war sich sofort darüber klar, daß diese Notgemeinschaft nach dem Grundsatz der Selbstverwaltung aufgebaut werden müsse, daß also nicht etwa vom grünen Tisch der Bürokratie aus der Wissenschaft geholfen werden könne, sondern daß die Sachverständigen selber sehen und sagen müßten, wo im Einzelfall geholfen werden könne.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 357, 267. Sitzung, 15. November 1922, S. 8996 f)
Es ist das Eigentümliche an der Wissenschaft, daß sie im Grunde genommen, eine überparteiliche Angelegenheit bedeutet und daß sie deshalb den Anspruch erheben kann, an jedem Tage und an jeder Stunde ihre Nöte und ihre Sorgen darzulegen, und selbst in den Tagen der Kabinettskrisis.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 357, 267. Sitzung, 15. November 1922, S. 8985)
Da ist als Betrübliches und Bedauernswertes zunächst der Mangel an Nachwuchs festzustellen. (…) In der Tat schwindet das Interesse am Hochschulberuf in der jungen Generation, die vor uns aufsteigt nicht eigentlich deshalb, weil es an wissenschaftlicher Anteilnahme fehlt, wohl aber darum, weil es an manchen Möglichkeiten gebricht, diesen wissenschaftlichen Nachwuchs an den Hochschulen anzusiedeln. (…) Sie werden immer wieder die Antwort hören, daß ein Teil der besten und brauchbarsten Kräfte nach der Industrie hinübergeht, und im Privatwirtschaftsleben eintritt. Auf den ersten Blick scheint das kein Verlust zu sein, sondern ein Aktivkonto und ein für die Industrie sehr günstiges Moment. Aber wer diesen Dingen nachdenklicher gegenübersteht, dürfte zugeben, daß auch die Industrie in ihrer Leistungsfähigkeit von einem gewissen Hochstand der Wissenschaft abhängig ist.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 357, 267. Sitzung, 15. November 1922, S. 8988 f)
Denn ich sehe eine außerordentlich große Aufgabe darin, wie ich bereits andeutete, daß gerade die Wissenschaft unserer Tage berufen ist, wieder eine der großen moralischen Brücken zum Auslande zu schlagen. Wenn wir davon sprechen, daß es darauf ankommt, unsere Exportziffern zu heben, und unsere passive Handels- und Zahlenbilanz auszugleichen, so wollen wir in diesem Zusammenhange gleichzeitig sagen: es gibt auch einen bedeutsamen Export von Ideen aus Deutschland, es gibt einen weltwirtschaftlich und für die Weltkultur unersetzlichen Reichtum geistigen Lebens heute in Deutschland, und wir stellen mit Bedauern und tiefer Traurigkeit fest, daß auch eine Minderung der wissenschaftlichen Substanz unseres Volksvermögens erfolgt, daß wir nicht mehr Ideen und deutsche Wissenschaftsarbeit so exportieren können, wie wir möchten, daß internationale Hemmungen dazwischentreten.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 357, 267. Sitzung, 15. November 1922, S. 8992)
Wie gesagt, die deutsche Wissenschaft, mehr noch als die Kunst, haben uns Ansehen im Ausland verschafft, und vor allem hat die deutsche Wissenschaft jene zahlreichen Studenten aus dem Ausland angelockt, die dann nach meinen Erfahrungen Sympathien und Verständnis für deutsches Wesen für den Rest ihres Lebens behalten haben.(…)
Denn, wie gesagt auf allen internationalen Konferenzen, auf denen ich bisher gewesen bin, habe ich konstatieren können, daß die Männer, die aus Deutschland ihre Wissenschaft geholt hatten, durch ihr ganzes weiteres Leben oft rührende Sympathien für Deutschland behalten haben.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 357, 268. Sitzung, 16. November 1922, S. 9016)
Deshalb will ich Ihnen einmal einige Zahlen mitteilen, die Ihnen zeigen, wie die Preise für die wissenschaftlichen Instrumente für Apparate, für Materialien geradezu ins Ungeheure gestiegen sind. Ein mikroskopischer Apparat für medizinische Untersuchen, der vor acht Wochen noch mit 100.000 Mark zu haben war, ist heute bereits auf 400.000 Mark heraufgegangen. Vor einem halben Jahre war er aber noch für 15.000 Mark zu haben (…) Sie bekamen das Kilo Quecksilber vor einem halben Jahre noch für 200 bis 400 Mark; jetzt zahlen Sie bereits 25.000 Mark. Nehmen Sie weiterhin die Apparate, mit denen man elektrische Messungen macht, z. B. ein Amperemeter. Es kostete früher 100 bis 150 Mark; jetzt müssen Sie dafür 100.000 Mark ausgeben.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 357, 267. Sitzung, 15. November 1922, S. 8987)
Wir haben aber mit Unterstützung sämtlicher Parteien einen Antrag auf Nr. 6136 eingebracht, die Reichsregierung zu ersuchen, die Summe für die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft von 4,4 Milliarden auf 900 Milliarden zu erhöhen. Wir halten den Antrag auch für das Plenum aufrecht, weil er formell noch nicht erledigt ist. Sachlich ist allerdings der Antrag bereits erledigt; denn wir haben im Haushaltsausschuß bereits eine Erklärung des Reichsfinanzministeriums bekommen, daß 900 Milliarden gezahlt werden sollen.
(Verhandlungen des Reichstages, Band 361, 381. Sitzung, 14. August 1923, S. 11862)
Historische Förderfälle in GEPRIS Historisch
Die im Jahr 2020 anlässlich des hundertsten Gründungstages der DFG-Vorgängereinrichtung „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ veröffentlichte Datenbank GEPRIS Historisch macht mehr als 50.000 Förderfälle der Jahre 1920 bis 1945 unter Beteiligung von über 13.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern recherchierbar. Das System wird ergänzt um einen umfangreichen Textapparat, der in mehreren Kapiteln auch auf Fragestellungen mit Bezug zu den Gründungsjahren der Notgemeinschaft eingeht.
Hinweise zur genutzten Literatur und den Fundorten