Interview: Dr. Rembert Unterstell, “forschung”.
Professorin Dr. Cordula Artelt ist seit 2019 Direktorin des Bamberger Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe und Projektleiterin des Nationalen Bildungspanels. Zugleich bekleidet sie den Lehrstuhl für Bildungsforschung im Längsschnitt an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Textverstehen und Lesekompetenz, Metakognition und selbst reguliertes Lernen, digitale Kompetenzen, Methoden von Large Scale Assessments sowie das Feld „Bildung in einer digitalen Welt“.
"forschung": Frau Artelt, die Kita- und Schulschließungen während des Shutdowns, das mehr oder weniger digitalisierte Homeschooling und dann wieder die Lockerungen für Präsenzunterricht in den Schulen – wenig wurde in der Öffentlichkeit kontroverser und auch emotionaler diskutiert. Hat dieser Diskurs um Pandemie und Bildung zu mehr Klarheit oder zu mehr Verunsicherung in den Köpfen geführt?
Cordula Artelt: Der Diskurs ist ja von vielen Stimmen geführt worden. Insgesamt haben die Diskussionen das Thema vorangebracht und auch die Notwendigkeiten für Veränderungen und Innovationen im Bildungssystem offenbar werden lassen – gerade mit Blick auf Flexibilität und Digitalisierung. Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass die Rahmenbedingungen, unter denen Schulen und Lehrkräfte in Pandemiezeiten agieren, ausgesprochen komplex sind.
Die Pandemie ist für das hochkomplexe Bildungssystem in der Bundesrepublik zum größten Stresstest seit 1945 geworden. Ohne über Einzelbereiche sprechen zu können – hat sich das System als Ganzes als krisenfest erwiesen?
Definitiv nicht! Wobei sicher die Frage im Raum steht, ob man das überhaupt hätte erwarten können, weil sich vor Kurzem wohl niemand eine solche Krise hätte ausmalen können. Wir haben an diesem exogenen Schock und den resultierenden Bedingungen für schulisches Lehren und Lernen gesehen, dass die notwendige Flexibilität und Krisenfestigkeit auf verschiedenen Ebenen des Bildungssystems nicht sichergestellt ist.
Als empirische Bildungsforscherin stützen Sie Ihre Aussagen auf valide Forschungsdaten. Das von Ihnen geleitete Nationale Bildungspanel, das als die größte Langzeitbildungsstudie in Deutschland gilt, hat im Mai und Juni 11 000 Personen im Zuge von Corona-Zusatzerhebungen online befragt. Mit welchem Ziel?
Es sind viele Extrastudien zur Pandemie ins Leben gerufen worden. Der Vorteil von unseren schon über lange Jahre laufenden und mit verschiedenen Kohorten arbeitenden Studien ist, dass wir bereits viel über die teilnehmenden Personen wissen – und sie auch noch über eine lange Zeit begleiten werden. Das heißt, wir können neben der Momentaufnahme auch vorauslaufende Bedingungen und längerfristige Folgen beschreiben, was mit Blick auf Aussage- und Datenqualität ein großer Schatz ist. Wir können damit verschiedene Dimensionen des Erlebens und Verhaltens in der Krise in den Blick nehmen, etwa den Umgang mit bestimmten Belastungssituationen. Oder differenzielle Effekte betrachten, also die Frage, wie stark bestimmte Gruppen benachteiligt sind, Personengruppen etwa mit besonderem Förderbedarf oder Eltern in systemrelevanten Berufen. Auch die Langzeitwirkungen interessieren uns. All das können wir datengestützt analysieren – in der Verbindung von aktuellen Zusatzstudien mit dem langfristigen Befragungsprogramm des Nationalen Bildungspanels.
Täuscht der Eindruck, dass die kurzfristigen Auswirkungen der Pandemie auf den Bildungsalltag in Schule und Zuhause ein großes Thema sind, während die langfristigen Auswirkungen auf Bildungsverläufe kaum auch nur angetippt werden?
Wir planen genau dazu eine Studie, bei der die Leistungsentwicklung von Neuntklässlern mit den Entwicklungen von Neuntklässlern von vor zehn Jahren verglichen werden. Dabei untersuchen wir Kompetenzbereiche, die mehr oder weniger stark durch schulisches Lernen beeinflusst werden. Konkret vergleichen wir etwa die mathematische Leistungsentwicklung vom 7. bis zum 9. Schuljahr zwischen der "Corona-Kohorte" und einer regulär durch das Bildungssystem gegangenen Kohorte. So sehen wir, ob und wie sich die coronabedingten Beeinträchtigungen und veränderten Rahmenbedingungen tatsächlich in Leistungseinbußen niederschlagen, differenziert nach verschiedenen Gruppen. Gerade über besonders benachteiligte Gruppen wird ja viel spekuliert – wir möchten dafür gute Daten und tragfähige Aussagen bereitstellen.
Wenn Sie auf die Zwischenergebnisse Ihrer bisherigen Corona-Erhebungen blicken – gibt es da neben vermutlich viel Erwartbarem vielleicht eine Beobachtung, die Sie überrascht hat?
Sehr überrascht hat mich, wie die Eltern das Homeschooling wahrgenommen haben. Natürlich gibt es viel Klagen und Wehleiden über die Belastungen, auch eingestandene Unfähigkeit zur fachbezogenen Unterstützung der Schulkinder, aber bei Weitem nicht so durchgehend und negativ wie in einigen Presseberichten dargestellt. Da sprechen die Daten eine weitaus differenziertere und auch positivere Sprache.
"Die Arbeit der Kommission ist richtungsweisend für die Grundlagenforschung." Die Pandemiekommission der DFG sieht sich erklärtermaßen der Differenzierung und einer breiten Interdisziplinarität verpflichtet. Trägt dieses Konzept auch in der Praxis?
Ich finde die Arbeit in der Pandemiekommission ausgesprochen bereichernd, im Plenum und in den vertiefenden Arbeitsgruppen. Sie ist aus gutem Grund interdisziplinär zusammengesetzt. Bei den jetzigen Gesprächen stehen die Fokusförderung zu COVID-19 und damit Vorhaben mit jetzt zu erhebenden Daten im Mittelpunkt. Die Arbeit der Kommission ist richtungsweisend für die Grundlagenforschung. Über die Arbeit an geeigneten Förderinstrumenten und interdisziplinären Ausschreibungen hinaus fände ich es interessant und vielleicht sogar hilfreich, wenn sich die Kommission auf der Basis ihrer interdisziplinären Diskussionen zu der einen oder anderen Pandemiefrage öffentlich äußern würde – natürlich ohne die Stellungnahmen der Leopoldina zu doppeln.
Konnten Sie bisher Ihre Sicht und Expertise als Bildungsforscherin in zufriedenstellender Weise einbringen?
Das ist nicht eine Frage der individuellen Zufriedenheit, sondern der Perspektive, der sozialwissenschaftliche Forschung und Bildungsforschung folgen. Ich sehe, dass die Perspektive der empirischen, nicht medizinischen Forschung berücksichtigt wird und durchaus eine wichtige Rolle einnimmt, gerade bei Fragen zu den langfristigen Auswirkungen und Längsschnittperspektiven im Zusammenhang mit Corona.
Die Pandemiekommission macht sich stark für erkenntnisgeleitete Grundlagenforschung. Was zeichnet die erste Ausschreibung zur neuen Fokusförderung COVID-19 vom August aus?
Sicher das schnelle Agieren in Ausschreibung und Begutachtung, was eine große Herausforderung für die DFG-Geschäftsstelle ist. Die Ausschreibung ist ja auf große Resonanz gestoßen. Dann natürlich der Fokus auf grundlagenorientierte Forschung überhaupt. So können zum Beispiel jetzt Daten erhoben werden, die vielleicht erst viel später und unter anderen als den Pandemiebedingungen ausgewertet werden.
Die Kommission will auch Forschungsbedarfe benennen. Wo liegt aus Ihrer Sicht der vorrangigste?
Der vorrangigste Bedarf aus der Perspektive der Bildungsforschung liegt in der Erforschung der eingangs angesprochenen Krisenresistenz des Bildungssystems und dann, positiv gewendet, in den Innovationen im Bereich der Digitalisierung von Lehren und Lernen. Das sind im Bildungssystem und im pädagogischen Handeln Notwendigkeiten, die nach den bisherigen Pandemieerfahrungen auf der Hand liegen. Abseits des Präsenzunterrichts müssen die Lernbedingungen entsprechend angepasst werden. Welche Ressourcen, Kompetenzen und Rahmenbedingungen braucht das System Schule? Das ist sicher keine neue Forschungsfrage, aber eine, die sich vor dem Hintergrund der Pandemie mit neuer und großer Dringlichkeit stellt – und nach Antworten verlangt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview ist auch im
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