Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2010 geht an eine Wissenschaftlerin und neun Wissenschaftler. Sie sind aus 170 Vorschlägen ausgewählt worden. Der mit 2,5 Millionen Euro dotierte Preis wurde am 15. März 2010 in Berlin verliehen. Er zeichnet hervorragende Wissenschaftler*innen für herausragende wissenschaftliche Leistungen aus. Mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2010 feiert die DFG zugleich das 25. Jubiläum dieser Auszeichnung.
Jan Born erhält den Leibniz-Preis für seine richtungsweisenden Arbeiten auf dem Gebiet der Schlafforschung. Born untersucht vor allem, wie im Schlaf Gedächtnis gebildet wird. Dabei konnte er zeigen, dass im Schlaf nicht nur Gedächtnis gefestigt wird, sondern auch kognitive Prozesse wie Problemlösungsstrategien stattfinden. Damit war er zugleich der erste Forscher, der einen kausalen Zusammenhang zwischen Schlafen und Lernen belegte. In Untersuchungen zu einzelnen Schlafphasen wandte sich Born vor allem der Rapid Eye Movement-Phase (REM) zu, von der bis dahin angenommen wurde, dass sie sich positiv auf das prozedurale Gedächtnis auswirke. In einer weithin beachteten experimentellen Studie, in der er die REM-Phase mit Medikamenten unterdrückte, konnte Born diese Annahme widerlegen. Schließlich untersucht Born auch die Gedächtnisbildung durch Schlaf in anderen organischen Systemen, so im metabolischen System und im Immunsystem. Seine Arbeiten sind bedeutende Beiträge zur Grundlagenforschung, sie greifen aber auch wichtige medizinische Fragen auf und sind auch gesundheitspolitisch von großem Interesse. Hohe Relevanz haben sie auch für die Lernforschung.
Nach dem Studium der experimentellen Psychologie und der Promotion in Tübingen habilitierte sich Jan Born in Ulm in Physiologie. Seit 2002 ist er Direktor des Instituts für Neuroendokrinologie an der Universität zu Lübeck. Born war Sprecher der DFG-Forschergruppe "Gedächtnisbildung im Schlaf", seit 2005 ist er Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Plastizität und Schlaf".
Peter Fratzl gehört zu den international führenden Vertretern der modernen Biomaterialforschung. Fratzl beschäftigt sich mit unterschiedlichsten Fragestellungen natürlicher Materialien wie Knochen und Pflanzen und erforscht insbesondere deren mechanische Eigenschaften. So analysiert er den Zusammenhang zwischen Eigenschaften und Struktur der biologischen Materialien und entwickelt neue biomimetische und bioinspirierte Werkstoffe, die biologische Strukturen oder Prozesse nachahmen. Die Forschungen hierzu bauen auf seinen früheren Arbeiten in der Metallphysik auf. Von hohem Gewinn für die Grundlagenforschung, liefern die oft in Kooperation mit Medizinern und Biologen durchgeführten Arbeiten wichtige Erkenntnisse zur Behandlung von erkranktem Knochengewebe und insbesondere zur Osteoporose. Zudem schaffen sie die Basis für die Entwicklung neuer oder optimierter biomimetischer Materialien für den Knochenersatz und für die regenerative Therapie von Hartgeweben.
Sein Ingenieurdiplom erhielt Peter Fratzl in Paris, seine Promotion in Physik absolvierte er in Wien, worauf Stationen in den USA, Großbritannien und Deutschland folgten. Danach war Fratzl Professor in Leoben und Direktor des Erich Schmid-Instituts für Materialwissenschaft der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, bevor er an das Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung wechselte. Für seine Arbeiten wurde Fratzl bereits mehrfach international ausgezeichnet, auch als akademischer Lehrer ist er weltweit anerkannt.
Der Wirtschaftswissenschaftler Roman Inderst ist mit 39 Jahren der jüngste Leibniz-Preisträger 2010 und übertrifft mit seinem Oeuvre bereits jetzt das Lebenswerk vieler renommierter Fachkollegen. Inderst arbeitet auf gleich mehreren Teilgebieten der Wirtschaftswissenschaften, denen er jeweils deutliche Impulse geben konnte. In frühen Studien zur "reinen Theorie" befasste er sich mit Märkten, in denen einzelne Teilnehmer einen Informationsvorsprung haben. Im Bereich der Industrieökonomik ging er unter anderem der Frage nach, welche Folgen der Zusammenschluss von Zwischenproduktherstellern auf den gesamten Produktmarkt hat. Von erheblicher Relevanz sind schließlich seine Arbeiten zum Zusammenspiel von Unternehmensfinanzierung und Unternehmenslenkung. Alle diese Arbeiten weisen Inderst national wie international als einen der kreativsten und originellsten Vertreter seines Faches aus.
Roman Inderst studierte zunächst Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Reutlingen, der FernUniversität Hagen und der Humboldt-Universität zu Berlin, promovierte an der Freien Universität Berlin und habilitierte sich 2002 in Mannheim in Volkswirtschaftslehre. Nach mehreren Auslandsstationen, unter anderem als Professor an der London School of Economics, hat er seit 2006 den von der Stiftung "Geld und Währung" geschaffenen Lehrstuhl für Finanzen und Ökonomie an der Universität Frankfurt/Main inne.
Christoph Klein verbindet medizinische Grundlagenforschung und klinische Praxis auf höchstem Niveau, was in Deutschland immer noch eher selten ist. Auf der Grundlage genetischer Analysen hat Klein verschiedene Gendefekte identifiziert, die schwere und oft tödliche Erkrankungen des Immunsystems auslösen. Dabei beschränkt sich Klein nicht auf die Beschreibung des jeweiligen Gendefekts und Krankheitsbildes, sondern sucht stets auch die molekularen Ursachen zu entschlüsseln. Besonders bedeutsam ist seine Entdeckung, dass ein Defekt in der Glucose-6-phosphatase dazu führt, dass von Geburt an zu wenig oder gar keine der zu den weißen Blutkörperchen gehörenden neutrophilen Granulozyten im Blut zu finden sind. Vor allem Kinder, die an dieser Erbkrankheit leiden, haben bislang kaum Überlebenschancen. Kleins Arbeiten eröffnen hier neue Therapieaussichten, nicht zuletzt durch die somatische Gentherapie.
Ulm, Harvard und München waren die Stationen von Christoph Kleins akademischer Ausbildung, wobei er neben Medizin auch Philosophie erfolgreich studierte. Seine Ausbildung zum Facharzt für Kinderheilkunde führte ihn nach Paris und Freiburg wiederum an die Harvard Medical School. Seit 2000 ist Klein an der MHH tätig, zunächst als Oberarzt, Sektionsleiter und Leiter einer DFG-geförderten Klinischen Forschergruppe, heute als Lehrstuhlinhaber und Ärztlicher Direktor der Klinik für Pädiatrische Hämatologie/Onkologie.
Der Entwicklungspsychologe Ulman Lindenberger ist einer der international führenden Köpfe der kognitiven Alternsforschung. In einer beeindruckenden Fülle von Untersuchungen hat er die Potenziale und Grenzen des kognitiven Alterns neu definiert, wobei er Ansätze aus den Neurowissenschaften, der Gerontologie und der Entwicklungspsychologie erfolgreich kombinierte. So konnte Lindenberger nachweisen, wie sehr das geistige Leistungsniveau älterer Menschen nicht durch natürliche Vorgaben wie das Alter festgelegt wird, sondern durch eigenes Handeln verändert und damit auch verbessert werden kann. Wahrnehmung, Denken und Gedächtnis im Alter sind demnach in hohem Maße von körperlichen, emotional-motivationalen und sozialen Faktoren abhängig. Diese Erkenntnisse der Grundlagenforschung haben rasch direkten Eingang in Praxisprogramme gewonnen und sind gerade angesichts des demografischen Wandels von eminenter gesellschaftspolitischer Bedeutung.
Nach dem Studium in Berkeley und Berlin promovierte und habilitierte sich Ulman Lindenberger an der Freien Universität Berlin in Psychologie. Danach war er Professor in Saarbrücken, wiederum an der FU sowie an der Humboldt-Universität in Berlin, bevor er als Direktor an das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wechselte. Durch mehrere Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte im Ausland ist Lindenberger zudem international intensiv vernetzt.
Mit Frank Neese erhält einer der weltweit führenden theoretischen Chemiker den Leibniz-Preis. Neese verbindet in seinen Forschungen vor allem die Bioanorganische Chemie und die Theoretische Chemie und bearbeitet insbesondere Themen, die zu den komplexesten Problemen der bioanorganischen Chemie gehören. An erster Stelle ist die Beschreibung der Elektronenzustände großer, biologisch relevanter und äußerst komplex aufgebauter Metalloproteine zu nennen. Für diese hat Neese ein quantenchemisches Programm entwickelt, mit dem Molekülberechnungen hundertmal schneller als zuvor erfolgen können. Zudem ermöglicht das Programm eine Interpretation von Spektren, die bis vor kurzem noch als undenkbar galt. Das von Neese entwickelte Programm hat sich schnell weltweit durchgesetzt und wird bereits von Tausenden von Anwendern in der Chemie, Biologie, Pharmazie und den Materialwissenschaften genutzt.
In Konstanz studierte und promovierte Frank Neese zunächst in Biologie, als Postdoktorand forschte er in Stanford, bevor er sich 2001 mit knapp 33 Jahren wiederum in Konstanz für Bioanorganische Chemie und Theoretische Chemie habilitierte und anschließend Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Bioanorganische Chemie in Mülheim/Ruhr wurde. 2006 übernahm Neese den Bonner Lehrstuhl für Theoretische Chemie, den zuvor die Leibniz-Preisträgerin Sigrid Peyerimhoff innehatte. Neese ist international bereits mehrfach ausgezeichnet und gilt auch als hervorragender akademischer Mentor, der immer wieder für sein Fach zu begeistern weiß.
Der Historiker Jürgen Osterhammel hat entscheidend dazu beigetragen, die deutsche Geschichtswissenschaft für welthistorische Themen und Fragestellungen zu öffnen. Durch eine Reihe bahnbrechender Werke zur europäischen und außereuropäischen Geschichte zählt Osterhammel zu den auch international anerkanntesten Vertretern einer neuen Form von Geschichtsbetrachtung, die die neuzeitliche Globalisierung in all ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten erfasst. Dabei hat er vor allem die Bedeutung der Beziehungen zwischen Europa und Ostasien für die Entwicklung der modernen Weltgesellschaft herausgestellt. In seinen Arbeiten gelingt Osterhammel immer wieder eine meisterhafte Verknüpfung der Sozial-, Politik- und Strukturgeschichte mit der Ideen-, Wissens- und Kulturgeschichte - besonders eindrucksvoll 2009 in seinem Monumentalwerk "Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts", das auch außerhalb der Fachwelt auf großes Interesse stieß.
Nach dem Studium in Marburg, Hamburg, Kassel und London promovierte Jürgen Osterhammel in Kassel und habilitierte sich nach einer Station am Deutschen Historischen Institut in London schließlich in Freiburg. Nach Professuren an der FernUniversität Hagen und in Genf ist Osterhammel seit 1999 Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte in Konstanz.
Petra Schwille hat mit ihren Arbeiten sowohl die Entwicklung als auch die Anwendung der Fluoreszenzspektroskopie zur Lösung von Fragen der Zellbiologie erheblich vorangetrieben. Bereits seit ihrer Promotion beschäftigt sich Schwille mit der Entwicklung ultrasensitiver fluoreszenzspektroskopischer Methoden, mit denen sich die Funktionen einzelner Proteinmoleküle charakterisieren lassen. Dabei konnte sie vor allem zur Entwicklung und Optimierung der sogenannten Fluoreszenzkorrelationsspektroskopie (FCS) beitragen, einer der elegantesten nichtinvasiven Methoden, um molekulare Vorgänge in biologischen Systemen zu erfassen. Durch die Kombination der FCS mit Zweiphotonanregungen gelangen Petra Schwille spektakuläre neue Einblicke in zelluläre Mechanismen. In neueren Arbeiten sucht sie die FCS-Methode auch in der Entwicklungsbiologie zu etablieren und konnte diese bereits in ersten lebenden Modellorganismen wie dem Zebrafisch und dem Fadenwurm anwenden. Auch zur Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Proteinen und Lipiden setzt Petra Schwille die FCS-Methode ein und hat sich dadurch international einen Namen gemacht.
Nach dem Studium der Physik und der Philosophie arbeitete Petra Schwille beim Nobelpreisträger Manfred Eigen in Göttingen und promovierte in Braunschweig, bevor sie als Postdoktorandin nach Göttingen und an die Cornell University ging. Wiederum am Göttinger Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie baute sie danach ihre eigene Nachwuchsgruppe auf, 2002 wurde sie als Lehrstuhlinhaberin für Biophysik an die Technische Universität Dresden berufen.
Stefan Treue wird für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Aufmerksamkeitsforschung ausgezeichnet. Treue erforscht vor allem die Prinzipien der Aufmerksamkeitssteuerung, die zu den Grundmerkmalen der höheren Hirnfunktionen zählen. In weltweit beachteten Untersuchungen konnte er zeigen, dass und in welchem Maße Aufmerksamkeit die Bewegungsverarbeitung und die Wahrnehmung und Verarbeitung sensorischer Reize beeinflusst. Die Ergebnisse seiner Arbeiten haben einen starken Einfluss auf große Teile der Hirnforschung. Nicht zuletzt durch Treues Arbeiten ist klar, dass neuronale Aktivitäten auf den unterschiedlichsten Ebenen des visuellen Systems durch Aufmerksamkeit beeinflusst werden. Hierzu konnte er zeigen, dass Aufmerksamkeitsphänomene schon bei der Verarbeitung von Informationen in Gehirnarealen, von denen zuvor angenommen wurde, dass sie durch kognitive Prozesse nicht erreicht werden, eine wichtige Rolle spielen. Über die kognitiven Neurowissenschaften hinaus sind diese Ergebnisse auch für die Neurologie, Psychiatrie und Psychologie von großem Interesse. Und angesichts der stark zunehmenden psychischen Aufmerksamkeitsstörungen und anderer krankheitsbedingter Aufmerksamkeitsdefizite haben Treues Arbeiten über die Grundlagenforschung hinaus auch eine große klinische Relevanz.
In Frankfurt/Main und Heidelberg studierte Stefan Treue Biologie, bevor er in die USA ging und am renommierten Massachusetts Institute of Technology promovierte. Nach Deutschland zurückgekehrt, habilitierte er sich in Tübingen in Physiologie. Seit 2001 ist Treue Geschäftsführender Direktor des Deutschen Primatenzentrums an der Universität Göttingen.
Mit Joachim Weickert erhält einer der weltweit führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Bildanalyse und deren Anwendungen den Leibniz-Preis. Weickert befasst sich mit der Entwicklung mathematisch fundierter Verfahren zur Bildanalyse, die effektiv und effizient auf heutigen Rechneranlagen realisiert werden können. Sie zielen vor allem darauf ab, unvollständige oder verrauschte Bilddaten zu verbessern und das Originalbild zu rekonstruieren. Zur sogenannten Entrauschung stark gestörter Bilddaten durch Diffusionsfilterung hat Weickert als erster eine praxisrelevante Theorie entwickelt. Sie ist die Grundlage für zahlreiche Verfahren, die inzwischen in der medizinischen Bildgebung, der geowissenschaftlichen Bildaufbereitung oder der computergestützten Qualitätskontrolle in der Industrie eingesetzt werden. Weickert arbeitet weit über die Grenzen der Informatik und Mathematik eng mit Ingenieuren, Biologen und Medizinern zusammen und hat so auch auf anderen Gebieten überraschende und sehr innovative Lösungen für aktuelle Informationsverarbeitungsprobleme erzielt.
Joachim Weickert promovierte in Mathematik und habilitierte sich in der Informatik. Nach Auslandsaufenthalten als Postdoktorand in den Niederlanden und Dänemark war er zunächst in Mannheim tätig, bevor er 2001 als Lehrstuhlinhaber für Mathematik und Informatik an die Universität des Saarlandes wechselte.